Die Lage ist unhaltbar. © Sandra Then.

 

 

 

Sommergäste. Maxim Gorki.

Schauspiel.                  

Joe Hill-Gibbins. Residenztheater München.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 18. Januar 2020.

 

 

Im "Sturm" bringt William Shakespeare Sommergäste verschiedenen Charakters und verschiedener Berufe weit ab von jeder städtischen Zivilisation zusammen. Sie vereinigen sich nicht freiwillig, sondern unter Zwang: Prosperos Zaubermacht warf sie ans Ufer einer wüsten Insel. Da laufen sie sich nun für die Dauer einer Aufführung ständig über den Weg, mal an dieser Stelle, mal "in einer anderen Gegend der Insel".

 

Dreihundert Jahre später, bei Maxim Gorkis "Sommergästen", kommt der Zwang, der die Figuren zusammenführt, nicht mehr von aussen, sondern von innen. Kein Zauberer hat mehr Schiffspassagiere von ihrem Weg entfernt; sondern nun ist es die gesellschaftliche Konvention der Sommerfrische, welche die Menschen in eine Datscha bringt, wo sie die Zeit der Musse in Selbstdarstellung und Beziehungsflege investieren.

 

Im Schauspiel des 20. Jahrhunderts steht der Strippenzieher nicht mehr, wie Prospero, auf der Bühne und spricht monologisch aus, was er denkt und was er will. Er ist jetzt – wie Gott – unsichtbar und unhörbar. Aber immer noch lenkt er die Geschehnisse, indem er, scheinbar aus Zufall, die Personen einander über den Weg laufen lässt. Denn auch Gorki hat, wie Prospero und der liebe Gott, eine Rechnung offen: "Ich wollte jenen Teil der russischen Intelligenz darstellen, der aus den demokratischen Schichten hervorgegangen war und – nachdem er eine gewisse Höhe der sozialen Stellung erreicht hatte – die Verbindung mit dem ihm blutsverwandten Volk verlor, dessen Interessen – nämlich, dass es die Tore des Lebens vor dem Volk weit zu öffnen galt – vergass ... Das ist das Drama, wie ich es auffasse. Den Schlüssel zu ihm bietet nach meiner Vorstellung der Monolog der Marja Lwowna im 4. Akt."

 

Ging es bei Shakespeare noch um ein dynastisches Motiv (der weggeputschte Herzog von Mailand suchte durch Rache Gerechtigkeit für sich und seine Nachkommen zu gewinnen), formuliert Gorki nun durch den Mund der Marja Lwowna ein politisches Anliegen: "Sie [die Proletarier] haben uns vorausgeschickt, damit wir den Weg zu einem besseren Leben ebnen. Aber wir haben sie im Stich gelassen." So entpuppen sich am Ende des Urlaubs die kommerziell erfolgreichen Sommergäste als Versager. Sie haben sinnleer die Zeit vertrödelt und ihre soziale Aufgabe weder wahrgenommen noch gelöst.

 

Im Unterschied zu Shakespeare, der die Lösung durch eine Handlung herbeiführt, zeigt Gorki bloss einen Zustand. Seine Darstellung aber mündet in die Einsicht, dass die Lage unhaltbar ist und dass alle, eingestanden oder nicht, in ihr leiden. Doch das Ende (welches für die Menschen des Dramas einer Katastrophe gleichkommen wird) liegt jenseits der Aufführung und ausserhalb des Theaterraums. Aber es wird kommen; in einer nahen, unvermeidlichen Zukunft.

 

Damit ist die Situation der Sommergäste metaphorisch für unsere Zeit; und die Bedeutung des Stücks so gewaltig, dass es genügt, die Rollen zu besetzen, den Text sprechen zu lassen und auf glaubwürdiges Spiel zu achten. Diese Einsicht hat den englischen Regisseur Joe Hill-Gibbins veranlasst, am Münchner Residenztheater auf sämtliche denkbaren Mätzchen zu verzichten und auf die Kraft seiner Schauspieler zu bauen. Das Resultat gibt ihm recht.

 

Gorkis Botschaft erreicht uns nun, weil sie sich der Darstellung durch Menschen bedient, zu denen wir ein Verhältnis aufbauen. Und das gelingt, weil wir vergessen, dass die Schauspieler tun, als ob. Wir meinen vielmehr, das, was wir sehen, sei wahr. Wir gewinnen also Einsicht nicht durch Belehrung, sondern durch Spiel, das heisst Artifizialität; im konkreten Fall sogar durch auf die Spitze getriebene Artifizialität. Mit ihr, der Artifizialität hoch zwei (offene Drehbühne kombiniert mit erzrealistischem Spiel), ruft die Inszenierung den Charakter der Wirklichkeit hervor; und mit ihrer souveränen künstlerischen Täuschung macht sie deutlich: Tua res agitur!

 

Ein solches Ergebnis ist nur möglich, wenn ein Ensemble zur Verfügung steht, mit dem jede Rolle deckend besetzt werden kann. Das Münchner Residenztheater ist dazu in der Lage. Und damit ragen seine "Sommergäste" weit über das Mittelmass hinaus.

Offene Drehbühne. 

Erzrealistisches Spiel. 

Vollkommene Illusion. 

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