Peter I. Tschaikowsky: 4. Sinfonie./Magnus Lindberg: Accused – Three interrogations (FEA)

Konzertabend.          

Sakari Oramo, Orchestre de Paris in der Philharmonie de Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 24. November 2019.

 

 

Das Orchestre de Paris beginnt den Abend mit Aaron Coplands "Fanfare for a Common Man". Inhaltlich handelt es sich um eine Verneigung vor den Opfern des Zweiten Weltkriegs – nicht den "Helden“, sondern den gewöhnlichen Leuten, gleich wie – inhaltlich betrachtet – die beiden folgenden grossen Stücke Gewöhnliche ins Zentrum stellen. Für sie werden die Kompositionen von Fanfarenstössen durchzogen; neben Coplands Trauermusik auch Magnus Lindbergs "Accused – Three interrogations" und Tschaikowskys vierte Sinfonie.

 

Als Textgrundlage für den Gesang einer Sopranistin in "Accused – Three interrogations" verwendet Magnus Lindberg drei Verhöre. Das erste stammt aus dem Prozess gegen die französische Revolutionärin und Frauenrechtlerin Anne-Josèphe Théroigne de Méricourt (1762-1817). Das zweite aus einer Befragung durch die Stasi: Eine Person muss erklären, wie sie in den Besitz von "Spiegel“-Exemplaren gekommen ist. Das dritte Verhör bringt die Befragung des Hackers Adrian Lamo (1981-2018). Er denunzierte Bradley Manning, den Urheber der WikiLeaks-Affäre. Die Übersetzung des gesungenen Texts wird in den grossen Saal der Philharmonie de Paris eingeblendet.

 

Der Wechsel von Fragen und Antworten bestimmt die Struktur von Lindbergs Komposition. Das Orchester bringt jene Dimensionen ins Spiel, die hinter den Worten liegen: das Ungesagte, das Befürchtete, das Gefühlte, das Versteckte, das Gewollte, das Empfundene, das Gesuchte ... Indem Magnus Lindberg der Kleinteiligkeit der Befragung akribisch nachfährt (jede Frage, jede Antwort enthüllt einen neuen Aspekt), bringt seine Partitur 1001 Uraufführung zum Erklingen. So erweitert die Komposition den Duktus der zweiten Wiener Schule um Töne, Farben, Harmonien und Übergänge, die alle den Charakter des Erstmaligen tragen. Auf diese Weise schaffen die "Three interrogations" eine fragile, ständig bewegte Balance zwischen Wörtern, Menschen, Situationen und Klängen.

 

Tschaikowskys vierte Sinfonie – auch sie beginnt mit Fanfarentönen – wirkt nach Lindbergs komplexer Mehrdimensionalität anfangs eher platt. Doch dann merkt man, dass hier die Energien zu Gruppen gebündelt sind; und diese Gruppen sind den verschiedenen Registern zugewiesen. So zieht es einem nun jedes Mal, wenn neue Instrumente zu reden beginnen, die Haut im Nacken zusammen, dermassen aufregend sind die Wendungen, die Peter Iljitschs Konfession nimmt. Nach dem ersten Satz denkt man: Jetzt müsste man eigentlich klatschen dürfen! Und schon braust der Applaus auf – nicht aus Ignoranz, sondern aus Kennerschaft. Das Publikum würdigt die ausserordentliche Energie, Könnerschaft und Präzision von Orchester und Dirigent. Der zweite Satz, Andantino in modo di canzone, reisst den Parisern erneut die Hände aus dem Schoss.

 

Am Ende ist klar: Der Abend vereinigte ein ausserordentliches Mass an konzeptioneller Geschlossenheit, Humanität und Klangschönheit. Der 54jährige finnische Dirigent Sakari Oramo empfahl sich damit nachdrücklich für den offenen Posten des Chefdirigenten am Orchestre de Paris. Doch er hat es nicht nötig, sich zu bewerben: Er leitet bereits das BBC Symphony Orchestra und das philharmonische Orchester Stockholm. Undenkbar, dass ihn diese beiden Klangkörper ziehen lassen. Aber vielleicht hilft der Brexit, Oramo zu überzeugen, ganz auf den Kontinent zu wechseln. In dem Fall wäre das Orchestre de Paris ein Kandidat erster Kategorie.

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