Die beide "Schuldigen": Jean und Julie. © Alain Richard.

 

 

 

Fräulein Julie. August Strindberg.

Schauspiel.          

Élisabeth Chailloux, Yves Collet, Léo Garnier, Madame Miniature. Théâtre de la Tempête, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 24. November 2019.

 

 

Élisabeth Chailloux macht nichts. In einer Spielstätte wie der "Tempête" ist das verwegen, ja schon alternativ. Es läuft nämlich gegen den Trend. Da inszeniert eine Frau das Strindbergsche Frauenstück, und sie macht daraus kein Manifest, keine Anklage, keine Dekonstruktion. Einfach nichts.

 

Schaut man dann aber genauer hin, macht sie viel. Enorm viel. Nur ist es fast unsichtbar. Also subtil. Enorm. ("e-norm" = jenseits des Durchschnitts.)

 

Élisabeth Chailloux fährt dem Text nach, den sie selber eingerichtet hat. Und weil sie jede Zeile bedacht hat, weiss sie, was in ihm steckt. Und das holt sie heraus.

 

Die Wirkung: Die Figuren leben. Die adlige Gutsherrentochter, der Diener, die Köchin – sie zeigen ein ganz feines, charakteristisches Profil. Nichts an ihrem Spiel ist ungenau, nichts unglaubwürdig. Alles stimmt. Trefflich.

 

Die Bewegung der Körper und Hände, der Ausdruck der Gesichter und Augen, der Rhythmus der Sätze, das Stocken der Worte, die langen sprachlosen Momente, in denen nur Klänge ("son": Madame Miniature) zu hören sind – und dann das Schweigen, die Leere, das unerbittliche Verrinnen der Zeit, die zur Entscheidung drängt – all diese Elemente sind derart fein ineinandergeflochten, dass das Drama den Bereich des Gespielten verlässt und ins Kontinuum des Lebens hinüberwechselt. Und in dieser Grenzüberschreitung liegt das Ausserordentliche. Es hebt die Aufführung aus dem Wust der "Produktionen" heraus.

 

Spielort ist eine Küche, und die Spieldauer geht vom Abend in den Morgen. In diesen Bogen sind die verschiedenen Spielmomente eingeschrieben. Élisabeth Chailloux gelingt es, zusammen mit ihren Bühnen-und Lichtgestaltern Yves Collet und Léo Garnier, die Atmosphäre des Feierabends, der hereinbrechenden Finsternis, der Stille, der nachtschlafenden Stunden, der Frühdämmerung, des Morgenlichts und des Feiertags mit reinen, aber zurückhaltenden Kunstmitteln herzustellen, antinaturalistisch und dennoch wahr.

 

In diese Etappen des Zeitverlaufs werden Handlung und Dialoge so eingebettet, dass jede Szene ihr Gepräge erhält. Ein Dialog tönt anders um acht Uhr abends als um zwei Uhr morgens. Élisabeth Chailloux und ihre Verbündeten wissen das und machen es spürbar, hörbar, sichtbar.

 

Und hier liegt das Erschütternde, das jenseits des Inhaltlichen fesselt: Fräulein Julie und Jean, also die beiden "Schuldigen", werden im Lauf der Ereignisse alt. Nach dem "Fall" sind ihre Gesichter gezeichnet; die anfangs glatte Haut ist von Furchen durchzogen.

 

Julie, die stolze Täterin sein wollte, wurde zum Opfer erniedrigt. Jetzt spricht sie nicht mehr mit aristokratisch gespitzten Lippen. Tränen treten in ihre Augen. Das ereignet sich nur, wenn Schauspieler ganz in der Rolle sind. Pauline Huruguen ist es. Aber auch Patrick Landrein, der am Ende das Rasiermesser der Grafentochter entgegenstreckt wie ein aufrechter Racheengel, wo doch seine Handlungsweise gezeigt hat: Er ist ein Schuft. Ein Profiteur. Aber auch ein verschmitzter Junge mit gewissen Ambitionen. Kein Aristokrat, sondern ein Angeber. Also ein Mensch wie wir.

 

Auch die Köchin (Anne Cressent) hat ihre Bandbreite. Sie reicht von der Selbstgerechtigkeit bis zur schmuddeligen Vorteilsnahme, von der braven Dienstpflicht bis zu den keuschen Träumen der einfachen Gemüter. Sie zieht einen strengen Rahmen um die Johannisnacht, gleich wie der Graf, der vor Beginn des Dramas abgereist ist und nach seinem Ende zurückkommt.

 

Damit hat August Strindberg die Tragödie kondensiert und eingefasst. Wenn jetzt der Ruf des Herrn ertönt – in der Inszenierung wiedergegeben durch ein vibrierendes Handy auf dem Küchentisch – wird gleich ein neues Drama beginnen, so wie "Fräulein Julie" nur die Fortsetzung eines vorangehenden war. Antikes Verhängnis in moderner Gestalt. Strindberg wollte es so, und die Aufführung realisiert's.

 

Diese Umsetzung eines Texts bis in seine letzten Fasern, dargeboten von jungen Schauspielern (was die Glaubwürdigkeit des Dramas erhöht), ist derart subtil, dass man sieht: Da ist nichts gemacht worden. Alles nur entstanden. Aus genauem Hinhorchen und demütiger Einfühlung. Das sind heute vergessene, ja verschmähte Tugenden. Darum ist "Mademoiselle Julie" in der "Tempête" eine eigenständige, mutige und gleichzeitig überzeugende Alternative. Chapeau.

Distanz ... © Bellamy.

... und Flirt.

 
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