"... Schichten parallel zum Bühnenrand ..." © Annette Boutellier.

 

 

 

Il Barbiere di Siviglia. Gioacchino Rossini.

Komische Oper.          

Matthew Toogood, Cordula Däuber, Mareile Krettek. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 14. Oktober 2019.

 

 

Heinrich Wölfflin, geboren am 21. Juni 1864 in Winterthur, wurde 1893 als Nachfolger seines Lehrers Jacob Burckhardt Professor für Kunstgeschichte an der Universität Basel. Es folgten Berufungen an die Universitäten Berlin (1901), München (1912) und Zürich (1924). Generationen von Wissen­schaftlern haben bei ihm gelernt, Kunst zu verstehen. Die Sichtachsen, die Wölfflin mit seinen "kunstgeschichtlichen Grund­begriffen" durch die Epochen schlug, waren dermassen erhellend, dass seine Betrachtungsweise später von der Musik- und Literatur­wissenschaft aufgenommen wurde.

 

Ein Gegensatzpaar, das man in allen Künsten wiederfindet, überschreibt Wölfflin mit "Fläche und Tiefe": "Dort ein Wille zur Fläche, der das Bild in Schichten bringt, die parallel zum Bühnenrand stehen, hier die Neigung, dem Auge die Fläche zu entziehen, sie zu entwerten und unscheinbar zu machen, indem die Verhältnisse des Vor- und Rückwärts betont werden und der Beschauer zu Bindungen nach der Tiefe hinein gezwungen wird." Die "Tiefenhaftigkeit" wird als Fortschritt betrachtet. Dementsprechend gibt es "Reaktionäre der Fläche". Und die haben nun in Bern beim "Barbier von Sevilla" zugeschlagen.

 

Es beginnt mit der Tonspur. Unter Kevin John Edusei hat das Berner Symphonieorchester das Geschehen auf der Bühne jeweils mit fein abgestufter, differenzierter Klangrede begleitet. Damit realisierte es, wenn man so will, den symphonischen Tiefenstil: "Jede Ansicht ist ein Ganzes und reizt doch zu einem ständigen Wechseln des Standpunktes. Die Schönheit der Komposition liegt in ihrer Unerschöpflichkeit." Beim "Barbiere" ist es damit vorbei. Man merkt nicht, dass die Komposition von Nummer zu Nummer einen unterschiedlichen Charakter trägt. Aus dem Orchestergraben blühen keine beseelten solistischen Leistungen empor. Die Crescendo-Walze bleibt in der Lehmschicht stecken. Breite und Behäbigkeit sind die Kennzeichen des neuen (alten) Stils. (Musikalische Leitung: Matthew Toogood.) Fläche statt Tiefe.

 

Die Ästhetik der Fläche prägt auch das Bühnenbild. Mareile Krettek stellt einen weissen Kubus auf. Durch ihn werden die Sänger an die Rampe gedrängt. Für die Stimmen ist das gut. Aber das Spiel hat – auch dramaturgisch – keine Tiefe mehr. Zum Glück gibt es Leute wie Eleonora Vacchi. Mit ihrem Gesang bricht sie aus der Einkastelung aus und bringt eine organisch entwickelte, reich gestaffelte Rosina-Partie. Jeder Ton stimmt. Jeder Ton ist schön. Und der nächste auch. Damit ragt sie aus der Kakophonie des Approximativen, die an der Premiere viel zu oft zu hören war, rein und strahlend heraus.

 

Sehr sauber auch Young Kwon als Basilio. Und der Chor, geleitet von Zsolt Czetner, bringt in seinen kurzen Interventionen jene Strahlkraft und Spritzigkeit, die Rossini verlangt. Also, da wäre doch etwas zu machen! Aber die Kräfte sind auf sich allein gestellt. Die einen ziehen sich gut aus der Affäre (Rainer Zaun als Bartolo), die anderen zumindest anständig (Theodore Browne als Almaviva, Todd Boyce als Figaro und Orsolya Nyakas als Berta).

 

Die Wurzel des Übels liegt beim Regiekonzept. Cordula Däuper entscheidet sich für flache Abstraktion. Damit bringt sie das Problem der Handlung (Käfighaltung einer jungen Frau) zum Verschwinden. Und sie realisiert ein harmloses Spiel an der Oberfläche, statt Psychologie, Bezüge, Problematisierung - kurz: Vielschichtigkeit – anzustreben. Mit Ausnahme von Rosina und Almaviva haben alle Personen eine lange Leitung. Wie Betrunkene und Debile merken sie erst nach mehreren Anläufen, was geschlagen hat, und nehmen ihre Handlungen mit übertrieben grossen Gebärden vor. Slapstick-Komik aus der untersten Schublade. Doch das Furzen, Schnarchen, Die-Kehle-vom-Rotz-befreien (Berndeutsch: "chodere") wird im Zuschauerraum mit Gelächter quittiert.

 

So fällt die Musiksparte von Konzert Theater Bern mit dem "Barbier von Sevilla" auf einen Stand zurück, den man in der Branche mit dem ominösen Wort "Stadttheaterniveau" bezeichnet. Das Premierenpublikum bedankte sich dafür mit frenetischem Applaus. Offenbar wünscht man sich in Bern die biedere Ästhetik der sechziger Jahre zurück. Der "Barbier" liefert sie.

Der weisse Kubus ... 

... drängt die Sänger ... 

... an die Rampe. 

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