Die Frage ist: Kopf oder Bauch?

Nodoka Okisawa gewinnt den 56. internationalen Dirigenten­wettbewerb von Besançon.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 21. September 2019.

 

 

Am Schluss stehen sich drei gegenüber: (1) die Klare, Gemessene, (2) der vulkanisch Mitreissende und (3) der Unbedeutende. Sie bestreiten am 56. internationalen Dirigentenwettbewerb von Besançon das Finale. Die Frage ist also: Kopf oder Bauch? Man könnte auch sagen: Japan oder China? Europa spielt nur noch mit, um das Reglement zu erfüllen, welches einen Dreikampf vorschreibt. Der Franzose, dem diese undankbare Rolle zugefallen ist, hat sich an den Vorausscheidungen nie hervorgetan - oder höchstens negativ, indem er gegenüber manch Begabterem abfiel.

 

Dass es Victor Jacob (28) ins Finale schaffen würde, ist eines der Rätsel, mit denen die Jury eine Woche lang Publikum und Fachwelt irritierte. Die Regionalzeitung "L'Est Républicain" titelte bereits nach der ersten Runde: "Ein umstrittener Wettbewerb" (un concours controversé). Denn "eliminiert" wurde nach und nach – leider in Besançon eine unselige Tradition – die Mehrzahl der interessanten, eigenständigen, kantigen Persönlichkeiten. Weiter kamen die Auswechselbaren, Stromlinienförmigen. - In dieser Beziehung bildete der Dirigentenwettbewerb am Doubs unsere Welt recht gut ab. Anderseits erklärt der Mangel an Originalität, Mut und Geist auch die Bedeutungslosigkeit, in die Besançon gefallen ist.

 

Ganz anders China. Die beiden stärksten Kandidaten, Hongjun Chen und Hoaran Li, sind Schüler ein und desselben Professors im Reich der Mitte. Ihr Markenzeichen ist Genie, gepaart mit Persönlichkeit. Diese Kombination genügte, um Hongjun Chen nach dem ersten Durchgang aus dem Ring zu verweisen - gerade, weil er bei Beethovens zweiter Sinfonie hatte aufhorchen lassen. "Finalwürdig", hatte der Kritiker oben auf die Seite geschrieben: "Sehr klare Konzeption. Bringt Ordnung in die Sache. Damit entsteht Spannung. Brillante Stabführung. Zweiter Satz: Die Klarheit führt zu Schönheit, Ausdruck, Leben. Eine Ausnahmeerscheinung. In China zur Welt gekommen. Der Wettbewerb wird zu einem Wettbewerb zwischen den Kulturen."

 

Die europäische Jury lehnte den Kandidaten einstimmig ab: "Das ist kein Dirigent! Das ist ein Game-boy!" Der 22jährige nimmt es gelassen: "Ich bin jung. Ich habe noch viel Zeit vor mir." Er hat recht. In zwanzig, dreissig, vierzig Jahren wird man Hongjun Chen möglicherweise in Salzburg, Verbier, Gstaad oder Luzern begegnen. Besançon aber – das hat ihn gesehen.

 

Ausgeschieden ist auch (bereits nach der ersten Runde!) der Mann, der an der Zürcher Hochschule der Künste bei Professor Johannes Schlaefli den Master in Orchesterleitung mit Auszeichnung erworben hat und der seit 2016 immer wieder eingeladen wurde, das Berner Symphonieorchester zu dirigieren. Aber eben, er trat zu selbstbewusst auf. Er wusste, was er wollte. Die Detailproben waren zielführend, und nach wenigen Takten stach sein Siegfried-Idyll vom Durchschnitt ab. Das Publikum merkte es und spendete Georg Köhler den längsten Applaus. - Rudolf Hohlweg, der langjährige Orchestermanager des Südwestfunks, hätte gesagt: "Den kann man vom Fleck weg engagieren." Doch das sah die Jury unter Yan Pascal Tortelier anders. Das Publikum rieb sich die Augen. Und das Orchester war nahe am Aufstand: "Die spinnen! Wir haben für ihn gestimmt!"

 

Währenddessen kam Victor Jacob mit dem Heimvorteil "Franzose" von Runde zu Runde weiter. Seine Interpretationen waren oft laut und pastos. "Durchhörbarkeit" ist eben ein deutsches Wort. Dafür entsprach Jacobs Arbeit dem herkömmlichen Ansatz. "Geeignet als Einspringer in Oldenburg", notierte der Kritiker nach dem zweiten Durchgang.

 

"Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt" kam sich ohnedies einsam vor. Die Wettbewerbsrunden wurden nur noch vom Lokaljournalisten des "Est Républicain" begleitet: pro Ausgabe 35 Zeilen auf Seite 7. Vorbei die Zeit, als der Leiter des Musikreferats von "Le Monde", die Chefredaktorin von "Diapason", der Musikkorrespondent von Radio Suisse Romande, der Kulturredaktor vom Schweizer Radio und der Kritiker von der "Süddeutschen Zeitung" die Ausscheidungen verfolgten.

 

Dass es die zierliche Japanerin Nodoka Okisawa (32) ins Finale schaffen würde, zeichnete sich indes von der ersten Runde an ab. Die Frau ist eine fertige Dirigentin. Ihr scharfer Intellekt verbindet Beherrschung der Partitur mit akkurater Analyse der Zusammenhänge. Wer Nodoka Okisawa engagiert, bekommt einen sicheren Wert. Ihre klaren Vorgaben sind der Sache in jeder Hinsicht angemessen.

 

Ebenso sicher – und ebenso selbstsicher – ist aber auch der chinesische Konkurrent Haoran Li (33). Seine Überlegenheit sticht jedoch weniger durch die Kühle des Intellekts hervor als durch die Leidenschaftlichkeit des Engagements. Wenn er dirigiert, geht es ums Letzte. Deshalb wachsen bei ihm die beiden am Wettbewerb beteiligten Orchester über sich hinaus, das Orchestre Victor Hugo Franche-Comté ebenso wie die Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern. Das Finale zu Mozarts Oper "Così fan tutte" gelingt Haoran Li so mitreissend, dass nach dem letzten Takt die Sänger von der Bühne herab dem Kandidaten zuklatschen.

 

Und nun kommt's zum Schluss - zum Finale des Wettbewerbs. Da bekommt Victor Jacob, der Unbedeutende, eine "mention spéciale". Haoran Li, der vulkanisch Mitreissende, geht leer aus. Bei der Uraufführung der Festival-Bestellung, "Constellations" von Éric Tanguy, kam er ins Schwimmen und buchstabierte sich durch.

 

Nodoka Okisawa, die Klare, Gemessene, erringt alle Preise: den der Jury, den des Orchesters und den des Publikums. So irritierend der Wettbewerb auch verlief – das Resultat ist eindeutig: "Sie brachte seriöse Leistungen ohne deplazierte Verführungseffekte. Ihre Interpretation von 'Tod und Verklärung' (Richard Strauss) hatte ein gewisses Charisma, und ihre Lektüre von Tanguy war klar. Dass sie gewann, war logisch." Das meldet einer, der es wissen muss, aus dem Herzen des Festivals. Authentischer geht's nicht.

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