Der Mann hat jetzt eine andere. © Georg Soulek.

 

 

 

Medea. Simon Stone/Euripides.
Schauspiel.
Simon Stone, Stefan Gregory. Burgtheater Wien.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 1. Oktober 2019.

 

Es ist nur ein kurzer Spaziergang vom Burgtheater in die Berggasse 19. Hier wohnte und arbeitete von 1891 bis zur Emigration im Jahr 1938 der Vater der Psychoanalyse, Prof. Dr. med. Sigmund Freud. Im Wartezimmer lagen zwei Bücher auf: die "Sudelbücher" von Georg Christoph Lichtenberg und die Bildergeschichten von Wilhelm Busch. Wenn der Patient ins Ordinationszimmer kam, rückte ihm von allen Seiten die Antike auf die Pelle: Freuds Sammlung von Basreliefs, Büsten, Köpfen, Figuren und Gemälden aus griechischer, römischer, etruskischer und ägyptischer Zeit ging in die Tausende.

Wie ein Insektenschwarm umgaben die geheimnisvollen Wesen aus der Tiefe der Zeit den Menschen auf der Couch mit seinem gegenwärtigen Leid. Und während der Analytiker "mit gleichschwebender Aufmerksamkeit" dem Monolog des Patienten zuhörte, sah er dessen neurotische Symptome eingebettet in Muster, welche in die mythologische Vorzeit zurückreichten (Ödipus-Komplex). Einmal erkannt, half die Vergangenheit, die individuelle Gegenwart zu erklären. Die aufgehellte Gegenwart wiederum befähigte den Patienten, in eine freie Zukunft zu schreiten. So kamen in den Therapiestunden an der Berggasse 19 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen.

Dieselbe erfüllte Zeit ereignet sich nun auch, nur einen kurzen Spaziergang von Freuds Wohnung entfernt, in Simon Stones Neufassung der "Medea" am Burgtheater. Und wie drüben, im 9. Bezirk, sind auch hier, am Rand des 1. Bezirks, Gegebenheiten, Muster und Zeiten so ineinander verwoben, dass sie sich gegenseitig erhellen. Damit ist die Aufführung in jedem Moment bedeutend.

Der Zuschauer erfährt die Mehrdimensionalität dieser sogenannten "Überschreibung" als kondensiertes Leben. Die Vergangenheit gebiert die Gegenwart, und die Gegenwart prägt die Zukunft. Den roten Faden bildet das Verhängnis, dass keiner aus seiner Haut kann und dass jeder so ist, wie er ist. Darin liegt – im Kostüm unserer Zeit – der antike Fluch der Götter.

Simon Stone gestaltet mit überwältigend sicherer Gebärde bereits den Anfang des Spiels. Das Betreten des Zuschauerraums vollzieht sich als Gang in die Überhelle: Die weisse, offene Bühne wirft ihr gleissendes Licht ins Publikum. So nimmt der Zuschauer mit gesteigerter Bewusstseinsschärfe wahr, welche Überblendungen sich in der Aufführung ergeben.

Da sind zuerst die beiden Jungs. Der eine steht bei der Wand, der andere sitzt an der Rampe mit einem iPad. Damit bildet die Bühne schon vier Dimensionen ab: die Zukunft, die die Buben verkörpern, die Gegenwart, in der sie sich befinden, die Vergangenheit, die sie herführte, und das Gedachte, mit dem sie sich beschäftigen.

Dann treten die Eltern auf. Die Mutter hält ein Bild in der Hand. Sie hat es in der Therapie gemalt, die soeben hinter ihr liegt. Der Vater nimmt es entgegen und versucht, es zu verstehen. Und wieder ist die Szene mit einer Dichte gefüllt, wie sie nur Meistern gelingt. Das Aufeinanderzugehen wird nämlich von Ereignissen gebremst, die in der Vergangenheit liegen. Die Gegenwart wiederum ist geprägt von unterschied­lichen Erfahrungen, Charakteren, Vorstellungen, Unverein­barkeiten und Missverständnissen. Was für eine Zukunft sich daraus ergibt, ist wahrnehmbar im Klang des Raums: schrilles Nichts (Musik Stefan Gregory).

Das Muster hinter der Figurenkonstellation hat Simon Stone dem attischen Dramatiker Euripides entlehnt, der es seinerseits aus dem Mythos des Argonautenzugs genommen hat. Auf der Bühne des Burgtheaters wird das Spiel mit den Überblendungen reflektiert durch die Verwendung von Video.

Die Projektionen entstehen, das erklärt die Aufführung, durch die Kamera der Jungs. Sie sind damit gleichzeitig Zeugen, Mitspieler und Voyeure. Ihre Bilder wiederum entpuppen sich als handlungsbestimmendes Element. Damit verschränken sich Bild und Realität, Gedachtes und Vorgefallenes, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einer dichten Gemengelage, in der alles, was die Bühne zeigt, seine Berechtigung hat, sogar der schwimmende und schwebende Ton der Verstärkeranlage, durch den das Gesprochene traumartig intensiviert und verfremdet wird.

In der Geschlossenheit liegt die Kraft dieser "Medea". Und in der Fluidität, mit der sie Simon Stone inszeniert, liegt ihre Qualität. Sie erinnert an den jungen Mendelssohn. "... Beden­ken wir aber hinwiederum, mit welcher konzentrierten Gehirn­kraft, stählernen Logizität und souverän ordnenden, sichtenden und klärenden Geistesmacht das Genie die ganze Welt der Erscheinungen meistert, mit welcher virtuosen Sicherheit es allen Dingen ihr rechtes Mass abnimmt und ihren konformen Ausdruck verleiht, mit welcher überlegenen Kunst und Kenntnis es sein eigenes Leben beherrscht und gestaltet, mit welcher leuchtenden Folgerichtigkeit und Architektonik es seine Werke entwirft und ausführt, aufbaut und abstuft, mit welcher Geduld und Sorgfalt, gesammelten Stetigkeit und heiteren Besonnenheit es seinen Weg geht, so wird man zu dem Schluss gedrängt: es gibt kein krankes Genie." (Egon Friedell: Kuturgeschichte der Neuzeit)

Von der Antike ...

... bis zu Freud. 

 
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