Dramatisierung einer essayistischen Textfläche. © Jean-Louis Fernandez.

 

 

 

Qui a tué mon père? Edouard Louis.

Schauspiel.                  

Stanislaus Nordey. Théâtre National de Strasbourg und Théâtre National de la Colline, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 25. März 2019.

 

 

Seit zwei Tagen zeigen sich an den Strassenbäumen helle, gefältelte Embryoblättchen. Nachmittags fahren einzelne junge Männer in Bermuda-Shorts mit Elektro-Trottinetts über die Gehsteige. Es ist Frühling in Paris. Die Hormone steigen. Passend zur Saison bringen das Théâtre du Rond-Point und das Théâtre National de la Colline zwei Einpersonenstücke zum Thema Männerliebe. Im Rond-Point beklagt eine Mutter den Tod ihres schwulen Sohnes, und auf der Colline beklagt ein Sohn den Tod des schwulen Vaters.

 

In beiden Fällen hat "das System" die Schuld, und "das System" hat einen Namen. Im Rond-Point ist es die homophobe katholische Kirche, und auf der Colline ist es der sozialfeindliche französische Staat. Wenn der Text von Edouard Louis fragt: "Qui a tué mon père?", lautet die Antwort nach zweistündiger Aufführungsdauer: "Präsident Chirac! Ich klage Sie an!" Das Gesetz zur Wiedereingliederung von Arbeitslosen, vernimmt man, war tödlich für den invaliden Vater. Dann aber weiter: "Präsident Sarkozy! Ich klage Sie an!" Die Reduktion des Sozialbudgets war tödlich für den invaliden Vater. "Präsident Hollande! Ich klage Sie an!" Die Entfernung der Verdauungsmittel von der staatlichen Medikamentenliste war tödlich für den invaliden Vater. "Präsident Macron! Ich klage Sie an!" Die Streichung von monatlich fünf Euro bei der Sozialhilfe war tödlich für den invaliden Vater. Man sieht: "Das System" ist tödlich. Deshalb erscheint jetzt eine Schrift an der Wand: "Die Zeit ist reif für eine Revolution!" Der Saal klatscht. Die Engagierten stehen auf.

 

Der Text von Edouard Louis wurde 2018 von Thomas Ostermeier fürs Theater bearbeitet und an der Schaubühne Berlin zur Uraufführung gebracht. "Qui a tué mon père?" beginnt mit einer These, die auf die Bühne projiziert wird: Exklusive, sozialfeindliche, homophobe Gesellschaftseinrichtungen bringen die Schwächsten um. Dieses Unglück ist aber nicht gottgegeben. Es geht zurück auf die Reichen und die Mächtigen, welche die Gesetze zu ihren Gunsten geschrieben haben. Damit sorgt der französische Staat dafür, dass die, die unten sind, nicht hinaufkommen, und die, die oben sind, oben bleiben.

 

Stünden diese Gedanken auf einem Thesenblatt, würde sie sogar Nobelpreisträger Stieglitz unterschreiben. Doch das Literatur- und Theaterwesen verlangt Anreicherung, Konkretisierung, Reflexivität. Der Autor, der Bearbeiter und der Regisseur inszenieren deshalb den biographischen Erinnerungsfluss als zweistündige Anrede an den Vater, mit assoziativen Sprüngen und Registerwechseln bis hin zur Zusammenfassung der Gedanken von Sartre und Kant. Diese Künsteleien schwächen den Text. Andererseits liegt im liebevollen Herausschälen der Eigentümlichkeiten, die den Vater ausmachten, auch der künstlerische Wert der Geschichte. Hier also wieder: Weniger wäre mehr. "In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister". (Goethe)

 

Im Unterschied zum Sohn hatte der Vater nicht den Mut - und auch nicht das Umfeld -, seine Homosexualität auszuleben. "Du hast deine Träume nie realisieren können." Der Vater führte ein Leben in der Verdrängung, und die brachte ihn - systembedingt - um. Dieses Geschick ist zwar traurig, aber nicht dramatisch im engeren Sinn. Aus diesem Grund bringt das Theater auch nicht einen Verlauf, sondern ein Geschwurbel.

 

Stanislas Nordey, der die essayistische Textfläche und sich selber inszeniert hat, trägt die Klage engagiert vor. Sobald er aber versucht, vom Forte wegzukommen, bricht ihm die Stimme weg. Viele unbetonte Endsilben sind deshalb unhörbar. Und stumm bleiben auch die einzelnen Worte, die er durch Leisesprechen herausheben möchte. Das Kopfmikrofon kann dieses Defizit nicht ausgleichen. Es verfremdet bloss die Raum­akustik.

 

Damit wird der Monolog – aus sprechtechnischen Gründen – bald einmal monoton. Ein junger Schwarzer in der hinteren Reihe schläft ein und beginnt, leise vor sich hin zu schnarchen. Zwei der Schüler, die mit ihrer Klasse in die Vorstellung geführt wurden, schieben einander im Finstern die Hände zwischen die Oberschenkel. Die Hormone steigen. In Paris ist es Frühling.

Eine einzige Anrede an den Vater. 

Monologisch vorgetragen von Stanislas Nordey. 

 
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