Tausend Juden. © Sepp Gallauer.

 

 

 

Die Reise der Verlorenen. Daniel Kehlmann.

Schauspiel.                  

Janusz Kica. Theater in der Josefstadt, Wien.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 8. März 2019.

 

 

Eine Aufarbeitung des Faschismus hat es in Österreich – gleich wie in Frankreich – nie gegeben. Mit dem Ausbruch des kalten Kriegs führten in der Alpenrepublik Russenhass und Anti-Kommunismus zu einer Wiederaufwertung des Nationalsozialismus, weil der "stets gegen den Bolschewismus" gewesen war. Dann kam Haider, der Mann der "Anständigen" und "Beschissenen". Heute ist die FPÖ Mitglied der Regierung Kurz. An der Fassade des Theaters in der Josefstadt aber steht immer noch gross und unübersehbar die Jahreszahl 1938. Damals verschmolz Österreich mit Deutschland. Sein Name wurde verboten, es war nur noch ein Gau im Reich.

 

Im Inneren des Hauses wird die Geschichte unter der Direktion von Herbert Föttinger musterhaft aufgearbeitet. Der Chef steht nicht nur hinter dem Programm, er steht auch in den grossen Rollen auf der Bühne und zeigt durch Spiel und Haltung, was "Anstand" wirklich bedeutet. "Professor Bernhardi" war in dieser Spielzeit schon zu sehen, also die Darstellung des Wiener Antisemitismus in den 1890er (!) Jahren. Dann gab es "In der Löwengrube", eine Darstellung des Wiener Antisemitismus, wie er sich 1936 mutatis mutandis im Theater in der Josefstadt selbst zugetragen hat. Und schliesslich, als Uraufführung, "Die Reise der Verlorenen" von Daniel Kehlmann. Es handelt sich dabei um die Dramatisierung des gleichnamigen Buchs von Gordon Thomas und Max Morgan-Witts. Das Stück führt ins Jahr 1939 und zeigt die Irrfahrt des Hapag-Dampfers St. Louis mit tausend jüdischen Passagieren von Hamburg nach Kuba. Dort wird ihnen das Asyl verweigert. Am Schluss landen sie in Antwerpen. Einwanderungsbeamte verteilen sie auf Belgien, Holland, Frankreich und England. Ein paar Wochen später bricht der Zweite Weltkrieg aus. Wer es nicht nach Grossbritannien schaffte, kommt um.

 

Das Theater in der Josefstadt zeigt nun musterhaft, einmal mehr, wie man eine Geschichte mit über tausend Beteiligten und eine Reise über den Atlantik und zurück auf die Bühne bringt. Nämlich im Stil des andeutenden Minimalismus. Regisseur Janusz Kica hat ihn im Laufe der letzten Jahre zur Perfektion entwickelt. Indem Auftritte, Gesten, Pausen, Kostüme und Lichteinstellungen in einen subtilen inszenatorischen Fluss gebracht werden, entstehen Menschen und Situationen. Die Person sagen sich selber an – eine Tradition, die bis in die Anfänge des Theaters in der Josefstadt im Jahr 1788 zurückreicht. Die Schauspieler können das. Sie können auch reden, alle. (Es gibt kaum ein Schauspielhaus im deutschsprachigen Raum, von dem sich das noch sagen lässt.) Sie können mit Selbstverständlichkeit von der Publikumsanrede ins Darstellen wechseln, so dass ihr Spiel nicht nur Glaubwürdigkeit hat, sondern auch Leichtigkeit und Eleganz. Damit heben sie das schwere Thema aus der Wirklichkeit empor zur Kunst, wie es Shakespeare, Schiller und Grillparzer vorgemacht haben. Kehlmann lässt die Personen sich selber kommentieren, aus der Rückschau und aus der Jetztzeit. Während sie spielen, drehen sie blitzschnell den Kopf zum Saal und erklären: "Ich bluffe." Oder sie sagen: "Ich starb in Nizza." Oder: "Sie denken, das ist übertrieben. Aber ich war wirklich so ein Schwein."

 

Das mögen einzelne Zuschauer nicht vertragen. Sie, darunter auch der blonde, schnöselige Jüngling von Reihe 9, Platz 1, verlassen den Saal bei laufendem Spiel. Manche stehen gleich an seinem Ende auf und gehen, ohne zu applaudieren, mit verschlossenem Gesicht zur Garderobe. "So was hätt einmal fast die Welt regiert! / Die Völker wurden seiner Herr, jedoch / Dass keiner uns zu früh da triumphiert - / Der Schoss ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!" (Brecht)

An Bord der St. Louis. 

Im Präsidialamt. 

 
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