Erzkonventionelles Chorarrangement. © Konstantin Nazlamov.

 

 

 

Les Fées du Rhin/Die Rheinnixen. Jacques Offenbach.

Oper.                  

Benjamin Pionnier, Pierre-Emmanuel Rousseau. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 3. November 2018.

 

 

Drei Stunden lang dauert die Aufführung, und während dieser Zeit haben die Männer des Chors nur zwei Dinge zu tun: Herumstehen und Fuchteln. Mal richten sie ihre Gewehrläufe ins Publikum, mal in die Kulisse. Wenn sie Kampfesmut ausdrücken wollen, strecken sie die Waffe in die Luft. Auf diese Weise führt Regisseur Pierre-Emmanuel Rousseau vor, wie man zu Grossvaters Zeiten den Chor organisierte: Die Männer im Karree, im Schwarm oder auf zwei Gliedern. Und die Frauen - um "Anmut" auszudrücken - im Kreis.

 

Mit den "Rheinnixen" ist Theater Orchester Biel Solothurn weit hinter die Regiekunst zurückgefallen, die Alexander von Pfeil vor zehn Jahren mit seinem unvergesslichen "Tancredi" an den Jurasüdfuss gebracht hat. Damals wurde der Chor zum ersten Mal individualisiert. Jeder Sänger, jede Sängerin hatte eine Persönlichkeit, ein Schicksal, eine Aufgabe. Die hergebrachte Gegenüberstellung von Ensemble und Solist war aufgelöst zugunsten einer belebten, differenzierten Darstellung von geschichtlicher Situation und sozialer Lage.

 

In der Branche hat dieser Stil einen Namen: Felsenstein-Schule. "Zu Felsensteins Konzeption von Musiktheater gehörte das realistische, von allen Sänger-Konventionen befreite Spiel, in dessen besten Momenten die Grenze zwischen Sprechtheater und Musiktheater überwunden wird." (Henning Rischbieter)

 

Diese Auffassung von Oper, die Felsenstein um 1950 entwickelt hat, gelangte also am Abend des 9. April 2010 erstmals nach Biel. Seither fand man sie wieder in Dieter Kaegis Inszenierungen von "Histoire de Carmen" und "Iolanta", Joël Lauwers "Barbiere" und Andrea Bernards "Cenerentola" – kurz gesagt: in den Spitzenproduktion des kleinen, gediegenen Hauses.

 

Mit Pierre-Emmanuel Rousseaus "Rheinnixen" wird das Theater nun zurückgeworfen in die Ästhetik der Guisan-Schweiz und der Nachkriegszeit. "Aber den Leuten gefällt's", erklärt die Pressefrau von Theater Orchester Biel Solothurn, und sie hat recht. Wenn die Bühne mit Rousseau-Produktionen in Visp gastiert, überschlägt sich der "Walliser Bote" vor Lob. Und in Winterthur vergibt der "Landbote" drei Smileys.

 

Es ist unübersehbar: Das konservative, um nicht zu sagen: zurückgebliebene Publikum kann sich in der Produktion der "Rheinnixen" "endlich wieder" zuhause fühlen. Es braucht hier nicht zu denken; es kann sich aufs Glotzen beschränken (wie Brecht diese Zuschauerhaltung 1928, also vor neunzig Jahren, benannte). Dem glotzenden Auge ist es kein Ärgernis, dass der Priester mit seiner Soutane in der ersten halben Stunde schon dreimal zum Bierkasten geht, um eine Dose Franziskaner zu holen. Denn dieser Spielzug ist nicht ein Akt hintergründiger Charakterisierung, sondern nur ein inspirationsarmer Tick, um die Sänger zu beschäftigen. "Gib ihnen ein Requisit, dann wissen sie, wohin mit den Händen." Das lernen die Leute des Volkstheaterverbands schon am zweiten Tag des Regiekurses.

 

So kommen jetzt allerhand Flüssigkeitsbehälter zum Einsatz: ein Thermoskrug, eine Wodka- und eine Schnapsflasche, und immer wieder Bier-, Bier-, Bierdosen. Mit ihnen stellt Pierre-Emmanuel Rousseau das wilde Soldatenleben auf die Bühne, als ob es den Meininger-Stil (entwickelt 1866) nie gegeben hätte. Es lässt sich nicht leugnen: Die Schweizer Erstaufführung der "Rheinnixen", 154 Jahre nach ihrer Entstehung, ist eine durch und durch reaktionäre Angelegenheit.

 

Die Arbeit der Sänger fügt sich ins veraltete Konzept nahtlos ein. Marie Gautrot steigert ihren Part mit historischem Tremolo und hochdramatischen Verrenkungen aus der Stummfilmzeit hinauf zu expressivem Geschrei, dessen Tonhöhe sich nicht mehr exakt bestimmen lässt. Serenad Uyar steht ihr punkto Lautstärke nicht nach, zeigt aber in den letzten Minuten, dass sie auch über ein schönes Piano verfügen würde. Warum nicht früher?

 

Leonardo Galeazzi, abonniert auf die Rolle des Bösewichts, dröhnt den ganzen Abend einförmig vor sich hin, obwohl er in früheren Produktionen gezeigt hat, dass er die Abstufungen beherrscht. Gustavo Quaresma, der in der "Cenerentola" ein einfühlsames Prinzen-Porträt zeichnet, lässt sich vom allgemeinen Brüllen mitreissen, doch die nasale Note seines Tenors verrät Nervosität.

 

Dass man in den "Rheinnixen" die Melodien auch singen könnte, zeigt an der Premiere einzig Lisandro Abadie. Sein kleiner Part ist eine Offenbarung und ein Genuss: Mit gerade geführtem, kultiviertem Bass gestaltet er schöne Linien, ohne den intensiven Ausdruck zu vernachlässigen. Man müsste die Oper nochmals hören, mit einem Ensemble, dass seinen Stil übernimmt. Vielleicht wäre man dann der Ausgrabung gegenüber gnädiger gestimmt.

 

Jetzt aber bietet das Dirigat von Benjamin Pionnier keinen Anlass zu Andacht oder Ehrfurcht. Schon in der Ouvertüre (die Offenbach-Bearbeiter haben sie postum für den Venedig-Akt von "Hoffmanns Erzählungen" verwendet) strebt er raschen Schrittes vorwärts, als ob in der Partitur "Nicht schleppen!" vermerkt wäre. In gewissem Sinn hat er recht. Die Nummern sind alle viel zu lang und viel zu dünn. Aber der arme Jacques Offenbach hatte ja auch ein Libretto zu vertonen, dessen Justament-Dramaturgie und verknäuelte Unwahrscheinlichkeit alle Vorurteile gegenüber der künstlerischen Mediokrität des Second Empire bestätigen. Und dann erst die Auflösung! Bis alle Fäden vernäht sind und das Schicksal jeder Figur zu Ende gebracht wurde, geht dem Komponisten und den Librettisten der Schnauf aus, den Darstellern das Feuer und den Zuschauern die Geduld.

 

Es hat schon seine Gründe, warum die "Rheinnixen" in der Schweiz erst 154 Jahre nach ihrer Entstehung und 138 Jahre nach Offenbachs Tod zur Aufführung kamen. Die schweren orthopädischen Gebrechen der Oper treten im Lauf der dreistündigen Aufführung unübersehbar ans Licht - zusätzlich verdeutlicht durch Pierre-Emmanuel Rousseaus erzkon­ventionelle, uninspirierte Regie. Nebelhaft bleibt bloss, warum die armen, halbverrotteten Wesen ihrem feuchten Grab entrissen werden mussten.

 

Schreiten und Stehen. 

Mit Waffen fuchteln. 

Mit Requisiten spielen. 

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