Ein Projekt zur Erkundung des Todes. © Annette Boutellier.

 

 

 

Der Tod des Iwan Iljitsch. Leo Tolstoi.

Schauspiel.                  

Noam Brusilovsky. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 1. November 2018.

 

 

In Vidmar 2, der kleinen Spielstätte fürs Experimentelle, haben sich neun junge Menschen aufgemacht, um miteinander den Tod zu suchen. In der Reihenfolge des Programmzettels sind dies:

 

- Noam Brusilovsky (Regie)

- Antonia Alessia Virginia Beeskow (Tondesign)

- Isabella Koeters (Kostüme)

- Reto Dietrich (Licht)

- Michael Gmaj (Dramaturgie)

- Florentine Krafft (Schauspielerin)

- Nico Delpy (Schauspieler)

- Gabriel Schneider (Schauspieler)

 

Zum Ausgangspunkt ihrer Recherche nehmen die neun Theaterleute eine Erzählung von Leo Tolstoi: "Der Tod des Iwan Iljitsch". (Erhältlich zum Preis von Fr. 4.90 bei Reclam in der Übersetzung von Johannes von Günther. 93 Seiten.) Ein hoher russischer Gerichtsbeamter stirbt im Alter von 46 Jahren an Krebs. Er hinterlässt eine Frau und eine Tochter. Die letzten drei Tage sind qualvoll. Die Schreie des Gepeinigten tönen durch alle Räume der Wohnung.

 

Die jungen Forscher des Theaterprojekts ziehen Erkundigungen ein: Kennt der Ordinarius für Strafrecht und Rechtsphilosophie die Geschichte? Man hört ihn auflachen. Das Interview wird nämlich aus dem Off eingespielt. Während der Tolstoi-Phase in der Spätpubertät, als ihn eben die erste Freundin verlassen hatte, sei er der Erzählung begegnet, bekennt Martino Mona. Nun ordnet er aus dem Stegreif den Stil der Novelle ein: Sie fragt nach dem Sinn des Lebens. Sie ist pessimistisch.

 

Und Iljitschs Krebs? Dr. med. Krisi Härmä, Fachärztin für Radiologie am Inselspital Bern, weiss Bescheid. Sie interpretiert ein Röntgenbild, auf dem ein weisser Punkt eingetragen ist: Wahrscheinlich eine seltene Form von Blinddarmkrebs.

 

Am Faden von Tolstois Erzählung tasten sich die Theaterleute weiter vor. Der Bestatter, die Pfarrerin, die Pflegeexpertin, der Psychoonkologe - sie alle haben beruflich mit Sterben und Tod zu tun und geben Auskunft. Damit kommt der Abend immer näher und näher auf Iwan Iljitschs Ableben zu, und immer näher und näher rückt Iwan Iljitschs Ableben an uns heran: "Ich möchte allen irgendwie sagen: Ihr seid meine Freunde. Ich kenne eure Leben. Ich weiss schon, wie es bei euch aussieht, wie ihr von der Arbeit in die Küche fummelt und von der Küche zum Fernseher ... Wir haben alle das gleiche Los. Darum, Freunde, nehmt es leichter! Nehmt es grösser, nehmt es weiter! Seid nicht so streng miteinander! Wer von euch weiss schon, in welchem Lungenflügel sich die kleine Krankheit eingenistet hat, die ihn zu Fall bringen wird?" (Hanns Dieter Hüsch) Im Lauf des Abends vergessen wir immer wieder, dass die literarische Vorlage in Russland spielt, und erfahren das Projekt als allgemeingültige Darstellung des Faktums, dass hier eine letzte Gewissheit ausgesprochen wird: Mors certa.

 

Die Theaterformen, die bei der Erkundung zum Einsatz kommen, sind vielfältig. Da sind - wie in jedem Atelier - Diaprojektoren, Wandtafeln, Plattenspieler, Requisiten. Und die Hauptfigur wird aufgeteilt auf die drei Schauspieler, so dass Iwan Iljitsch durch alle Mitwirkenden läuft. Die drei Schauspieler wiederum teilen sich auf in Performer, Darsteller, Interviewer, Ansichtsexemplare, Dozenten, Mitbürger und Privatmenschen. Eine interessante Gemengelage, die gekennzeichnet ist durch die Seriosität der Recherche (wenn wir über den kindischen Einbezug des Publikums hinwegsehen).

 

In einem Punkt allerdings - dem entscheidenden - bleibt das Projektteam hinter dem russischen Dichter zurück: Statt "beklemmend-unheimlichem Einfühlungsvermögen und erstaunlicher Gestaltungskraft" zeigt der Abend immer wieder leere Momente, und der Kenner wird, zusammen mit dem Laien, die "stetige Steigerung der inneren Dynamik des Geschehens bis zur Lösung der Spannung am Schluss" (Erwin Wedel) vermissen.

 

Die erklärende und kommentierende Form bringt eben den Erzählfluss nicht bloss zum Stocken - sie trocknet ihn aus. Was aber an die Uferböschung gesetzt wird an körper­sprachlichen Aktionen und diesem und jenem, hat weder Suggestivität noch Kraft. Deshalb lässt sich auf die Länge der Eindruck von Beliebigkeit nicht verdrängen. Und warum? Weil die Formenvielfalt nicht durch Gestaltung ausbalanciert wurde. Da liegt die Krux. - Das Manko zeigt sich bereits am Einsatz des Lichts. Die Beleuchtung verwendet Glühbirnen, Neonröhren, Diaprojektoren und Scheinwerfer, schafft aber mit diesen Mitteln weder eine beklemmende Atmosphäre noch einen eigenständigen Kommentar.

 

Tja, was wollt ihr? Klar wissen, was man will, ist ein ausschlaggebendes Element des Schöpferischen. Darum sind die Meister auch so streng zu sich und den anderen. Die jungen Leute in Vidmar 2 aber waren noch zu nett mit sich, ihrem Projekt und dem Tod. (An dieser Stelle würde ein milder Lehrer dazuschreiben: Steigerung möglich.)

 

Das Röntgenbild zeigt den letalen Punkt. 

Die Schauspieler als Darsteller ihrer selbst. 

 
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