Praller Realismus ohne unsympathische Züge. © Herbert Neubauer.

 

 

 

Fremdenzimmer. Peter Turrini.

Volksstück.                  

Herbert Föttinger, Walter Vogelweider. Theater in der Josefstadt, Wien.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 2. Mai 2018.

 

 

Beim Flüchtlingsstück von Peter Turrini, welches das Theater in der Josefstadt in Auftrag gegeben und zur Uraufführung gebracht hat, muss man unterscheiden zwischen dem Anliegen, der Machart und der szenischen Umsetzung. Das Anliegen ist, ein modernes Märchen zu erzählen. Es nimmt, wie jedes Märchen, die Sorgen und Nöte auf, die die Menschen bewegen, und führt sie mit heiterer Überlegenheit zu einem guten Ende. Weil es sich um ein "modernes" Märchen handelt, steht der utopische Schluss unter der Kautel: "orandum est ut sit" (beten wir darum, dass die Dinge so seien, wie wir sie uns wünschen). In höchster Gefahr heben die drei Personen des Stücks in einem imaginären Flugzeug miteinander ab, lassen Wien und die Polizei und die Abschiebebefehle und das zerbombte Syrien unter sich und fliegen der Freiheit, dem Himmel, dem Jenseits, dem Paradies entgegen, wo alles, alles gut wird, was jetzt auf Erden beschädigt, krumm und böse war.

 

Indem Turrini ein Märchen erzählt, weckt er die Sehnsucht nach einer andern Welteinrichtung, und in dieser Belebung der Sehnsucht, welche die Menschen zum Weitergehen und Durchhalten ermutigt, liegt die produktive Kraft des Märchens, die sich das Stück zunutze macht, um die Zuschauer in Bewegung zu setzen und sie am Ende verändert, um nicht zu sagen: neu beseelt aus der Vorstellung zu entlassen.

 

Da es sich bei "Fremdenzimmer" um ein Märchen handelt, erzählt Turrini die Geschichte schlicht und geradlinig. Auf der Bühne steht ein älteres, unverheiratetes Paar aus der Wiener Unterschicht. Es lebt bezeichnenderweise im lichtarmen Erdgeschoss einer Gemeinde­bauwohnung in Transdanubien (so lautet die inoffizielle Bezeichnung für die sozial problematischen, ausländerreichen Siedlungen jenseits der Donau). Eines Tages entdeckt der Mann in seinem Bastelkeller einen syrischen Flüchtling. Und da beginnt das Märchen. Weil die Frau entscheidet: "Er bleibt hier!", wachsen die drei Menschen im Lauf der Zeit wortlos aufeinander zu, der junge Fremde und das längst entfremdete alte Paar. Als sich aber die Herzen wieder erwärmt haben, fragt der Gustl: "Schlafen wir bei mir oder bei dir?", und darauf antwortete die Herti mit rührender Präzision: "Das hast du mich 2003 zum letzten Mal gefragt!"

 

Um diesen aufwärtsstrebenden Verlauf darzustellen, entscheidet sich Peter Turrini für die Machart des Volksstücks. Man begegnet darin der ehemaligen Aushilfskellnerin im Pratergasthaus, die nach einer abgebrochenen Friseurlehre als ledige Mutter nach Wien zog und dort einen inzwischen pensionierten Zustellbeamten der Post kennenlernte, mit dem sie seit Jahrzehnten zusammenlebt. Dieses Personal erlaubt es Turrini, alle Vorurteile des Volks gegen die Flüchtlinge in saftigstem Wienerisch auf die Bühne des Josefstädter Theaters zu bringen. So vernimmt man, dass Österreich durch Aufnahme dieser jungen "Samenschleudern" "über kurz oder lang untergehen" werde; "wirst's schon sehen!" Aber die Herta, die auf ihren seit zwanzig Jahren abgängigen Buben wartet, hört nicht recht hin. Sie kann nun mit dem Syrer das Fremdenzimmer beleben, das sie für den vermissten Sohn bereithielt.

 

Die Sprache und die Auseinandersetzungen des Paars haben eine hohe kabarettistische Wiedererkennungsqualität. Gustl zu Herta: "Erzähl' ich jetzt die Geschichte oder du?" Und zum Flüchtling gewendet: "Immer unterbricht sie mich!" Der angesprochene Syrer (der als Flüchtling tatsächlich unter dem Damoklesschwert der Ausweisung lebt) ist jung, schön und still wie ein Engel; dazu ist er auch rücksichtsvoll, einfühlsam und technisch begabt. In dreitägiger Arbeit gelingt es ihm, Gustls Fernbedienung fürs Hobbyflugzeug wieder zum Funktionieren zu bringen. Es gibt keinen Grund, sich nicht über ihn zu freuen, solange die Frage: "Und jetzt, wie weiter?" ausgespart bleibt.

 

Die Machart des Stücks schliesst Differenzierung und Problema­tisierung aus. Darin liegt der Nachteil des Genres, und der kritische Zuschauer bleibt mit seinen Fragen und Einwänden allein. Der moralische Imperativ verdrängt das Realitätsprinzip. Würde es indessen berücksichtigt, würde die Geschichte unentwirrbar, und das gute Ende bliebe ihr versagt. Damit fällt jedoch, bei aller Sympathie für das Anliegen, ein Schatten des Unbehagens auf die Machart des Stücks.

 

Die szenische Umsetzung besorgt der Herr des Hauses, Herbert Föttinger, zusammen mit seinem Bühnenbildner Walter Vogelweider. Für die Wiener Rollen wählt er zwei Wiener Lieblinge: Ulli Maier als Herta Zamanik und Erwin Steinhauer als August "Gustl" Knapp. Die beiden spielen ihre Typen mit prallem Realismus, ohne die unsympathischen Züge der Deix-Figuren anzunehmen. Darum muss man sie, wie den stillen, schönen Flüchtling, einfach gern haben. Um so hassenswerter kommen einem dann beim Verlassen des Theaters die Welt und ihre Konflikte vor.

 

Dichtung und Wahrheit: "Warum muss bloss die Dichtkunst das zeigen, was du [Schicksal] versagst, und die armen blütenlosen Menschen erinnern sich nur seliger Träume, nicht seliger Vergangenheiten? Ach Schicksal, dichte doch selber öfter!" (Jean Paul)

Ein modernes Märchen. 

Drei wachsen aufeinander zu. 

 
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