Ihretwegen hat es sich gelohnt, die Produktion anzusetzen. © Philipp Zinniker.

 

 

The Medium. Gian Carlo Menotti.

Oper.                  

Anne Hinrichsen, Alexander Kreuselberg, Kim Zumstein, Maya Däster. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 3. Februar 2018.

 

 

Die Tür geht auf. Ein junges Paar wirbelt in die Mansarde des Berner Stadttheaters. Die Längswand ist von einem theatralisch geprägten Interieur gesäumt: Zwei lange, rote Vorhänge mit gewelltem Faltenwurf gehen von der Decke bis zum Boden. Davor stehen ein paar rot gepolsterte Stühle und ein runder, lackierter Holztisch. An der Wand links befindet sich eine Hausbar mit einer Reihe von scharfen Getränken, die ein roter Vorhang verdeckt. Das Bühnenbild von Kim Zumstein spielt mit dem Gegensatz zwischen dem Sichtbaren und dem Versteckten, und es trifft damit genau den Kern von Gian Carlo Menottis Kurzoper "The Medium".

 

Es geht da, künstlerisch gesehen, um nichts anderes als ums Spiel mit raffiniert ineinander verwobenen Gegensätzen: Wahrheit versus Lüge, Wirklichkeit versus Geisterwelt, Arglosigkeit versus Hinterlist, Mutter versus Tochter, lüsterne versus keusche Liebe, zynische Gefühlsausbeutung versus echte Trauer. - Mit diesen Verknüpfungen schafft es das Meisterlibretto, das aus der Feder des Komponisten selber stammt, die einfache, klar nachvollziehbare Handlung mit Resonanzen zu füllen, die hinter jedem Moment das Vieldeutige und Vielschichtige erfahrbar werden lassen. Dadurch hebt sich "The Medium" aus dem Bereich der Kolportage in die Mehr­dimensio­nalität der Kunst, und die Mansarde wird zum Spielort im doppelten Wortsinn: Zum Ort, wo gespielt wird, und zum Ort, den das Spiel meint. Von dieser Verschränkung der Wirklich­keiten handelt Gian Carlo Menottis Kurzoper.

 

Beim Hereinkommen spielt das junge Paar züchtig und selbst­versunken Haschen. Es ist nicht zu entscheiden, ob seine Zurückhaltung der Premierennervosität oder einem Konzept geschuldet ist. Wahrscheinlich beidem. Aber wie auch immer: Die Situation stimmt nicht. Die beiden jungen Leute (Elissa Huber, Davidson Farias) müssen sich zueinander auf den Boden legen. Was da geschieht, sehen die Zuschauer von der zweiten Reihe an nicht mehr. Damit wird die Aussagekraft der stummen Szene gebrochen. Es hilft auch nicht weiter, dass Elissa Huber jetzt zu singen beginnt: Weil ihre Vokale verwaschen sind und ihre Konsonanten schwach, versteht man ihr Englisch nicht. Übertitelung aber bietet die Mansarde nicht an. Schon denkt der ahnungslose Besucher: "Um Gotteswillen, diese Oper werde ich nie verstehen!"

 

Doch dann tritt Claude Eichenberger auf, die Darstellerin der Titelrolle, und gleich wird das vagabundierende Zuschauer­interesse gepackt. Allein schon die Stimmqualität lässt aufhorchen: Wohlgefüllte Mittellage, warm, stark. Und dann das Englisch: So klar und verständlich, als wäre es Berndeutsch. Es ist aber makelloses Queen's English.

 

Die Figur begreift man auf Anhieb. Denn die Qualitäten der Darstellerin lassen keinen Wunsch offen, weder im Gesang noch im Spiel. Und gerade da ist sie so überragend, dass die Boutiquen-Produktion von Konzert Theater Bern ihre volle Rechtfertigung erhält. Der Zuschauerbereich mit seinen siebzig Plätzen ist nur gerade drei Reihen tief. So bekommt man nicht nur mit, was Claude Eichenberger an Haltung, Gesang und Gestik Ausserordent­liches bietet, sondern auch – und da liegt das Erschütternde – an Mimik. Schon beim ersten Zusammenbruch der Figur läuft eine solche Vielzahl von Vorgängen durch ihr Gesicht, dass unabweislich ist: Ihretwegen hat es sich gelohnt, die Produktion anzusetzen. Der grosse, weitgereiste Kritiker auf dem Nebensitz stellt beim Aufstehen fest: "Die Frau ist ein Glücksfall für Bern."

 

Jetzt läutet's an der Tür. Drei Gäste kommen zur spiritisti­schen Séance. Alle drei sind wohlbesetzt und durch ihr Kostüm (Maya Däster) trefflich charakterisiert. Am runden Tisch reichen sie sich die Hand und schliessen die Augen, um mit ihren früh verstorbenen Kindern in Kontakt zu treten. Nicht alle sprechen gleich gut Englisch. Carl Rumstadt sticht durch Diktion, Haltung und Stimme heraus.

 

Die Situation ist stark. In ihr kulminiert das Spiel mit den Gegensätzen. Die Familie des Mediums (drei Personen) spielt den Trauernden (ebenfalls drei Personen) schmählichen Hokus­pokus vor. Für die Zuschauer aber ist das echte Gefühl, das die Trauernden herbringen, packender als das unredliche Arrangement, durch das sie ausgebeutet werden. Doch nun schlägt – ein weiterer Streich des klugen Librettos – die Handlung nochmals um. Die Betrügerin, die das Medium spielt, spürt plötzlich eine kalte, unsichtbare Hand auf ihrem Nacken. Sie bricht die Séance ab, von Panik gepackt. Und da ist jetzt die Szene, wo der Zusammenbruch einer Gestalt über Claude Eichenbergers Gesicht läuft wie der Einsturz eines gemauerten Turms.

 

Es ist unverkennbar, dass eine sensible Regie (Alexander Kreuselberg) den Sängern geholfen hat, ihre Personen zu finden, zusammen mit der musikalischen Leiterin Anne Hinrichsen. Sie begleitet die ganze Handlung vom Klavier aus. Und wenn sich auch die Partitur (ursprünglich für kleines Orchester gesetzt) "melodisch wie harmonisch konservativ" gebärdet, findet gerade ihre "eklektizistisch-produktive Mischung" (R. Quandt) in der Mansarde des Berner Stadttheaters ihre Erfüllung und schafft einen schönen, wohlgelungenen Abend.

Die Gäste sind durch ihr Kostüm trefflich charakterisiert. 

Was die Jungen treiben, sieht man von der zweiten Reihe an nicht. 

 
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