Durch seinen surrealen Charakter wird der Abend gleichzeitig tief und versöhnlich. © Joel Schweizer.

 

 

 

Before I Speak I Have Something to Say. Merker/Schoch.

Ein Marx Brothers Abend.                  

Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 3. November 2017.

 

 

So weit sie auch auseinanderliegen, in ihrer Auffassung von Kunst stimmen der rechte und der linke Philosoph überein. Der rechte stellt fest: "Es gibt Leser, die von den Büchern angenommen werden, und Leser, die von ihnen zurückgewiesen werden." Die Folge ist: "Lesen können ist das Letzte, was man lernt." (Nicolás Gómez Dávila) Der linke Philosoph erklärt, womit das zusammenhängt: "Alle Kunstwerke, und Kunst insgesamt, sind Rätsel; das hat von altersher die Theorie der Kunst irritiert. Dass Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen, nennt man den Rätselcharakter unterm Aspekt der Sprache. Er äfft clownshaft." Die Folge: Kunst schliesst aus. "Unmöglich, Amusischen zu erklären, was Kunst sei; die intellektuelle Einsicht können sie nicht in ihre lebendige Erfahrung einbringen." (Theodor W. Adorno)

 

So verhält es sich auch mit dem Marx-Brothers-Abend von Theater Orchester Biel Solothurn, "Before I Speak I Have Something to Say". Wenn man "hinein kommt", wird man, sobald man "drin" ist, von der Aufführung berührt und mitgerissen. Der Kern dessen, was das Produktionsteam wollte, ist so nah, dass man seine Wärme spürt und für die Dauer eines Abends aus der Erstarrung gelöst (um nicht zu sagen: erlöst) wird. Wenn man's jedoch nicht spürt, geht es einem wie dem "Unmusikali­schen, der die 'Sprache der Musik' nicht versteht und sich wundert, was diese Geräusche sollen" (Adorno). An ihrem Marx-Brothers-Abend betreiben Max Merker und Matthias Schoch nämlich etwas recht Seltsames: Evokation durch Exploration.

 

Sie gehen der Geschichte der Marx Brothers nach, vom Moment an, wo sie Einzug halten in den Tonfilm. Max Merker präsentiert sie, wie sie die Showtreppe heruntersteigen, einer nach dem andern, während Matthias Schoch am Keyboard erstaunlich virtuos den Sound liefert. Und dann begleiten wir Groucho Marx in seine drei gescheiterten Ehen: die Frauen verfallen dem Alkohol, die Tochter auch. Wir sehen den Komiker auf der Bühne, drei Tage, bevor seine Partnerin stirbt. Im Hintergrund flackert der Schwarzweissfilm auf, während im Vordergrund die entsprechende Szene nachgespielt wird. Dann tritt Margaret Dumonts Tod ein, und mit ihm das Unwieder­bringliche.

 

Der Einbruch des Unwieder­bringlichen ins Show Bizz, das von der Wiederholung der Nummern lebt, Abend für Abend, bis sich die Produktion amortisiert hat und Gewinn abwirft, auch im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, dieser Einbruch führt "Before I Say" zum Moment seiner schönsten, berührendsten Komik. Den Zusammenprall von Tod und Liebe führen die Schauspieler nämlich im Kostüm zweier Muppet-Figuren vor. Die Verzweiflung über das gnadenlose Umsonst und Vergebens unserer Existenz wird durch den surrealen Charakter der Szene gleichzeitig tief und versöhnlich: "Ist ein Arzt im Publikum?", fragt der Überlebende. "Ich meine: ein Tierarzt?"

 

Durch die Exploration verschiedener Aspekte der Marx-Brother-Geschichte gelingt es dem Abend, die Natur des Künstlertums zu evozieren, das heisst hervorzurufen, ohne dafür Worte zu brauchen. Da entdeckt man hinter der Fragilität die Sensibilität und hinter dem ständigen Auf-der-Kippe-Stehen die ständige Gefahr des Abrutschens. Um diesen menschlichen, verletzlichen Kern geht es, der in der Kunst steckt. Aber auch in uns. Wir hatten's nur bis zu diesem Abend vergessen. Das lassen uns Max Merker und Matthias Schoch durch ihre stupende Artistik erfahren, die mit dem Nonsens spielt, sich aber auch von ihm emanzipiert. Die Spiegelnummer stellt die Frage: Wer bin ich? Aber auch: Wer ist er? Zeitweise kann man die beiden Schauspieler nicht auseinanderhalten. Aber kann man uns in jedem Moment von den andern unterscheiden? Ich frage.

 

Man sieht: Der Abend, der nur eine Stunde dauert, bietet dem Philosophen reiche Ansätze zum Denken und Weiterdenken, wie das bei aller grossen Komik der Fall ist. Sobald man genau hinschaut, geht es weiter und weiter, tiefer und tiefer. Der eine Philosoph wird fest­stellen: "Durchs Verstehen ist der Rätselcharakter nicht ausgelöscht. Noch das glücklich interpretierte Werk möchte weiterhin verstanden werden, als wartete es auf das lösende Wort, vor dem seine konstitutive Verdunklung zerginge." Und der andere Philosoph wird erkennen: "Was die Kontraktion einiger Muskeln zu einem Lächeln werden lässt, ist das Gestreiftwerden von unsichtbaren Flügeln." Beide Philosophen haben recht. Und beides ereignet sich am Marx-Brothers-Abend von Max Merker und Matthias Schoch. Er ist packend und faszinierend, und wie das Traumleben dynamisch bewegt, vielschichtig, rätselvoll, komisch und traurig.

Die Spiegelnummer stellt die Frage: Wer bin ich?

Nachgeforscht wird dem Wesen der Marx Brothers.

 
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