"Wenn du so anfängst, ist die Partie nicht zu gewinnen!" © Philipp Zinniker.

 

 

 

Gurlitts entarteter Schatten. Anna-Lisa Ellend und Albert Liebl.

Schauspiel.                  

Anna-Lisa Ellend und Albert Liebl. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 2. November 2017.

 

 

Am Montag war noch die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass die "Bohème" in Nürnberg so daneben ging. Ein erfahrener Intendant und Operndirektor, der die Vorstellung als Gast besucht hatte, erklärte am Frühstückstisch, die Hauptschuld liege am Dramaturgen: "Er hätte es sehen, und er hätte einschreiten müssen. Dafür ist er da." Fatal sei allerdings auch gewesen, fuhr der Experte fort, Regie, Bühnenbild und Kostüme in einer Hand zusammenzulegen. "Das kommt nie gut! Es fehlt der Widerpart, die Kontrolle, die jede Produktion braucht." Es gibt zwar Ausnahmen: Achim Freyer, Alvis Hermannis oder das Ehepaar Herrmann. Sie haben oft zugleich für Regie und Bühnenbild gezeichnet.

 

Zwei Tage später in Bern, am Mittwoch, ist bei der Uraufführung von "Gurlitts entartetem Schatten" noch mehr zusammengekommen. Da stehen Anna-Lisa Ellend und Albert Liebl nicht nur hinter Regie und Bühnenbild, sondern auch noch hinter dem Text. Und prompt verlieren sie sich, mangels Widerpart, im Knäuel ihrer Vorstellungen. Es gab zwar eine Dramaturgin, Fadrina Arpagaus. Aber es ist von aussen nicht zu entscheiden, ob sie mildernd oder verstärkend auf die hermetische Esoterik des Abends eingewirkt hat. So oder so, das Ganze ging jämmerlich daneben.

 

Ohnmächtig wie ein Preisrichter, der dem Junior-Schachspieler über die Schulter schaut, musste man schon bei den ersten Zügen konstatieren: "Wenn du so anfängst, ist die Partie nicht zu gewinnen!" Nico Delpy stand hinter einem Pult und musste so tun, als würde er sich etwas überlegen. Aber in der unbarmherzigen Nähe der kleinen Vidmarhalle war keine Täuschung möglich: Er tat nur so, als ob. Dann fiel sein Blick auf ein Blatt, das seinen Namen trug. "Uiuiui!" Und wieder tat er so, als ob.

 

Später, viel später (denn die Zeit dehnte sich an diesem Abend, und die fünf Viertelstunden wuchsen aus zu einer gefühlten Unermesslichkeit) las Delpy dann vor, was auf dem Blatt stand, um das er anfänglich so verlegen herum­getänzelt war; und dann bestand die Pointe darin, dass es nichts zu verstehen gab. Ausser vielleicht für Nico. Alle andern aber, die nicht zum Kreis der Allerverschworensten gehörten, sahen sich in ihrer Erwartung getäuscht. Bestimmt ein subtiler Kunstgriff, ein hochironisches Spiel mit den "Zuschauer­haltungen", und zwar auf der Ebene "du troisième degré", mindestens. O du heilige Einfalt! Parturiunt montes, nascetur ridiculus mus. (Gewaltig kreissen die Berge, und geboren wird eine lächerliche Maus.) Horaz: Von der Dicht­kunst.

 

Derweil sass das Publikum auf Falthockern, wie wir sie vom Camping und vom Freiluftzeichnen her kennen, und lauerte freundlich aufs K. So definierte der Komponist Herbert Fries (1926-2015) den Kalauer. Wie bei den Vorstellungen der Emmentaler Liebhaberbühne versuchten die Zuschauer, die Pointe hinter jedem Satz zu erwittern, bis sie im Lauf der elend langen fünf Viertelstunden merkten, dass es nichts zu lachen gab. Und zu verstehen sowieso nichts. Denn das hm "Stück" ist eine Kreuzung von parasitärer Produktion und Insider-Veranstaltung. Die Beteiligten werden bei den Proben vielleicht gewusst haben, was sie wollten. Vielleicht auch nicht. Dann entstand die Vorstellung aus improvisatorischem Geklimper. Das ist von aussen nicht zu entscheiden.

 

Parasitär aber ist die Produktion, weil sie nicht selbständig aufrechtstehen kann, sondern auf einen Wirt angewiesen ist, an dem sie, wie Efeu, emporranken kann. Bei "Gurlitts entartetem Schatten" ist das der Name Gurlitt. Am Tag, wo er aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwindet, gleitet der Abend in die postdadaistische Unverständlichkeit. Der "Blick am Abend" mit dem Namen Gurlitt kam vorgestern heraus. Heute ist schon ein anderer Tag.

 

Noch gestriger ist die Regiesprache. Sie reicht tief ins letzte Jahrhundert zurück. 1970 hat Norbert Klassen angefangen, im Berner "Studio am Montag" mit (damals) avanciertem, aber vollkommen unverständlichem Körpertheater "experimentell" mit "neuen Theaterformen" umzugehen. So muss nun bei "Gurlitt" der arme Walter Ellend in die Hocke, bis er fast zusammenbricht. Wäre er kein Mensch, würde der Tierschutz einschreiten.

 

Dann kam – o wie jung waren wir damals! – in den achtziger Jahren Christoph Marthaler auf und liess die Schauspieler singen, und Jürg Kienberger machte Musik (in Bern heute: Kaspar von Grünigen und Fabian M. Mueller). Jetzt brauchen wir nicht mehr nach Hamburg oder Berlin zu fahren. Das Berner Schauspiel bringt's.

 

In den neunziger Jahren begann dann von Giessen aus die szenische "Reflexion" über die "Selbstreferentialität" der "theatralen Zeichen" unter der Führung der "praktischen Theaterwissenschaft". So nimmt jetzt Nico Delpy nach den ersten Spielminuten, die einem "Prolog" entsprechen sollen, ein Blatt zur Hand und liest vor, was noch kommen und wer noch auftreten werde. (Meine Feder sträubt sich, bei dieser Inhaltsangabe bereits von "Konzept" zu reden.) Und dann sieht man, wie im Publikum die Gesichter nach und nach erlöschen.

 

Obwohl das Theater in den Spielplan "ausverkauft" schrieb, blieb am Premierenabend die Hälfte der Hocker leer. Und von den vierzig Anwesenden gehörten die meisten zum Haus oder zu den Freunden oder zur Presse. Gleichwohl klatschten die Wohlmeinenden am Ende nur matt. "Mir taten die Schauspieler leid", rechtfertigte die Nachbarin zur Linken ihr Applaus­gebaren. Da sieht man, wie weit wir fortgeschritten sind. Im 20. Jahrhundert hätte man noch gebuht.

Schlafhaltung wie bei Marthaler.

Und Körpertheater wie bei Klassen. 

 
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