Ein-Frauen-Stück auf reduziertere Bühne. © Ruth Walz.

 

 

 

Le Testament de Marie. Colm Tóibín.

Schauspiel.                  

Deborah Warner, Tom Pye. Odéon, Théâtre de l'Europe, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 23. Mai 2017.

 

 

Der irische Schriftsteller Colm Tóibín plaziert sein Ein-Frauen-Stück ins Jahr 35. Jesus wurde gekreuzigt und begraben. Aber seine Jünger behaupten, er sei auferstanden. Damit habe eine neue Zeitrechnung begonnen. Und zwar für die ganze Welt. Die Mutter des Gekreuzigten kann dazu nur den Kopf schütteln. "Er wird nie wiederkommen!", ruft sie in ihrer Küche. "Dieser Stuhl wird von jetzt an immer leer bleiben." Die Gefolgschaft, die ihr Sohn um sich gesammelt hatte, war ihr immer suspekt gewesen. In Marias Augen bildeten sie nichts anderes als "eine Bande von Spinnern" (une bande de désaxés). Jetzt, wo die Anhänger Erinnerungen an den Dahingegangenen sammeln, um sein Leben zu dokumentieren, haben Marias Aussagen hohe Bedeutung. Aber sie nimmt die Aktivitäten nicht ernst. Wenn die Jünger behaupten, in den letzten Stunden des Erlösers sei Maria am Kreuz gestanden, zuckt sie die Schultern. Sie weiss es besser. Sie war lange vor dem Ende geflüchtet, weil man ihr gesagt hatte, sie werde gleich verhaftet. Und über die Behauptung, Jesus sei Gottes Sohn, kommt sie ins Lachen: "Als ob ich nicht wüsste, wie es bei seiner Zeugung zuging!"

 

So legt Maria im Pariser Odéon, Théâtre de l'Europe, Zeugnis ab über das Leben ihres Sohnes, der jetzt Christus genannt wird, und schildert in ihrem eigenen Testament, dem "Testament de Marie", ihre Sicht der Dinge. Damit kollidiert die heilsgeschichtliche Überhöhung der Ereignisse ums Jahr 30 mit dem bodenständigen Pragmatismus der Zeitzeugin, und Deborah Warners Inszenierung reflektiert die Frage, wie es ursprünglich gewesen war und was daraus gemacht wurde, indem sie den ganzen Andachtskitsch beiseitewischt, den zweitausend Jahre Kirchengeschichte hervorgebracht haben, um den Fokus, also den Lichtkegel eines Verfolgerscheinwerfers, allein auf die Darstellerin der Maria zu richten.

 

Folgerichtig gestaltet sich die Aufführung als Reduktion. Anfangs umfasst das Geschehen den ganzen Theaterraum (Bühnenbild: Tom Pye). Der Vorhang ist offen, und das Publikum wird von den Platzanweisern eingeladen, die Bühne zu betreten; eine Möglichkeit, die auch rege benutzt wird. Man kann dort um die Objekte einer wuchtigen Aufstellung wandern, während sich der Raum in der Mitte hält zwischen Kunsthalle und Kirche. Da werden die Handys fleissig gezückt wie noch selten in einem Theater. Die einen Besucher machen auf der Bühne Selfies, die andern fotografieren die Objekte und die dritten nehmen die Besucher auf, die Objekte fotografieren.

 

Aufs Mal aber rückt alles weg. Die Schauspielerin, die als heilige Maria reglos in einer Glasvitrine sass, verlässt mit den Besuchern die Aufstellung und kommt in unauffällig moderner Kleidung auf die reduzierte Bühne zurück, wo sich nur noch ein Tisch, ein paar Stühle und eine Leiter befinden – das Material, mit dem Dominique Blanc die Geschehnisse aus der Perspektive Marias darstellen wird.

 

Anfangs wird im Saal noch gehustet. Ab und zu leuchtet ein Handydisplay auf. Denn die Geschichte ist nicht neu: Die Hochzeit von Kaana; die Heilung des Lahmen; die Auferstehung des Lazarus. Colm Tóibín verlässt den Rahmen des Evangeliums nicht, wie er in der Sonntagschule aufgespannt wurde. Aber dadurch, dass eine Frau die Ereignisse so erzählt, als sei sie eine von uns, ruft der Prozess der schauspielerischen Identifikation mit der Zeit im Publikum die Bereitschaft hervor, sich seinerseits mit der Figur und der Geschichte zu identifizieren.

 

Damit das gelingt, sind zwei Dinge erforderlich. Erstens: Eine makellose Diktion. Ohne den Gestus der Alltagssprache je zu verlassen, muss die Vortragende auch die hinterste Reihe erreichen, wo der Kritiker sitzt, ohne Abstriche bei den Konsonanten (und damit bei der Verständlichkeit) zu vermerken. Zweitens: Die Schauspielerin muss die Kraft haben, eine Durchschnittsfigur durch einen anderthalbstündigen Monolog zu tragen, ohne dass das Interesse erlahmt. Regisseurin Deborah Warner glaubt zwar, sie müsse die Handlung durch Illustration unterstützen, und liefert damit den Kitsch, auf den man als Europäer gern verzichten möchte, auch wenn er am Broadway Eindruck machte, wo die Inszenierung 2013 mit Fiona Shaw erstmals herauskam. In Paris aber ist Dominique Blanc von der Comédie-Française Manns genug, einem durchschnittlichen Stück exzeptionelle Intensität abzugewinnen.

Maria erklärt, wie es damals zuging.

 
 
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