Ein römischer Imperator wie in Fellinis "Roma". © Sabine Burger.

 

 

 

Lucio Silla. Wolfgang Amadeus Mozart.

Oper.                  

Predrag Gosta, Daniel Pfluger, Flurin Borg Madsen, Kerstin Griesshaber. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 9. April 2017.

 

 

Dass man es mit Ausserordentlichem zu tun bekommen wird, kündet schon Stephan Bundis Plakat an, dem man auf dem Weg zum Theater an der Kreuzackerbrücke begegnet. Es zeigt einen leeren Büstensockel. Hunderte davon sind in ganz Europa bis heute erhalten geblieben. Sie dienten als Unterlage für die Imperatorenköpfe, die aus der Hauptstadt geliefert wurden, sobald klar war, wer dort die Macht errungen hatte.

 

Die Lage der Keltensiedlung Saloduron aber, die die Römer Salodurum nannten, kann man sich mutatis mutandis etwa so vorstellen, wie sie Kafka in der "Abweisung" beschreibt: "In der Hauptstadt haben die hohen Herrscher einander abgelöst, ja sogar Dynastien sind ausgelöscht oder abgesetzt worden und neue haben begonnen, im vorigen Jahrhundert ist sogar die Hauptstadt zerstört worden, auf unser Städtchen hat das eigentlich keinen Einfluss gehabt. Unsere Beamtenschaft war immer auf ihrem Posten, die höchsten Beamten kamen aus der Hauptstadt, die mittleren Beamten zumindest von auswärts, die niedrigsten aus unserer Mitte, und so blieb es und so hat es uns genügt."

 

Und nun führt der Weg zu "Lucio Silla", Mozarts zweiter Oper, im Städtchen, "wo's immer so isch gsy ...", nicht nur ins schönste Barocktheater der Schweiz (und gleichzeitig auch in das älteste durchgehend bespielte Theaterhaus), sondern auch ins römische Altertum. Der Kampf um die Macht, dem wir von unserer peripheren Lage aus täglich mit Schauder am Bildschirm beiwohnen, führte damals beim Kampf ums Kapitol zu Zeichen, die wir heute noch kennen: Lorbeer, Büste, Inschrift, Denkmal, Podest, Aufmarsch, Ikone, Show ...

 

Fürs Produktionsteam ist damit die Herausforderung enorm: Wie lässt sich die Tiefe der Geschichte in einem Haus zur Darstellung bringen, das mit Bühnenmassen von 8 x 6 x 4,2 m (B x T x H) selber keine Tiefe hat? Und dessen Dekorationen so einfach beschaffen sein müssen, dass man sie ohne Schwierigkeiten in die Partnerstadt Biel und in die Abstecherorte Baden (Kurtheater), Vernier (Salle du Lignon) und Burgdorf (Casino-Theater) verfrachten kann? Auf die Antwort "Minimalismus" kommt noch bald einer. Aber damit das reduzierte optische System trägt, muss es zugeschliffen werden bis zur Prägnanz. Dann erst geht von ihm jene Kraft aus, die packt und durch den Abend zieht. Und dafür braucht es mehr als Könnerschaft und Erfahrung. Dafür braucht es Inspiration, Sensibilität und Intelligenz, kurzum: Genie, gepaart mit Bescheidenheit. Durch diese Kombination zeichnet sich nun die "Lucio Silla"-Aufführung aus, die Daniel Pfluger im Zusammenspiel mit Flurin Borg Madsen (Bühnenbild), Kerstin Griesshaber (Kostüme) und Samuel Schmid (Licht) hervorgebracht hat.

 

Die Kombination von Genie, gepaart mit Bescheidenheit, ist auf dem Markt eine solche Rarität, dass man sie als Kostbarkeit bezeichnen muss. Die meisten angesagten Opernregisseure nämlich (mit Ausnahme von Andrea Breth, Willy Decker, Robert Carsen und Alexander von Pfeil) funktionieren nach der Devise: "Moi, moi, je, je!" Pfluger nicht. Und so ereignet sich jetzt das Wunder, dass wir im uralten dreiaktigen Dramma per musica aus dem Jahr 1773 von einer Wirklichkeit ergriffen werden, die uns zugleich vertraut und unbekannt vorkommt.

 

Im Gegensatz zu den herrischen Auslegern, die mit ihren Interpretationen die Werke vergewaltigen, wählen Pfluger und sein Team eine sanftere und zugleich geheimnisvollere Methode. Der Literaturwissenschafter Jochen Hörisch hat sie so beschrieben: "Man kriecht in die Texte hinein, bis man ins Offene kommt." Wer da an Eros denkt, liegt nicht falsch. Hörisch: "Jetzt fühle ich mich wirklich ertappt. Verstanden, sozusagen. Mein Verhältnis zum Text ist, ihn auch dann zu lieben und zu begehren, wenn er einen erst einmal fremd und abweisend anschaut. Und sich dann um ihn zu bemühen. Nicht um ihn zu erobern, sondern um von ihm erobert zu werden. Die fremden Buchstaben schauen mich so verführerisch an, dass sie sagen: Folg mir in die Fremde. Nicht: Folg mir in die Heimat."

 

Auf diesen Weg in die Fremde, in der man so viel Unauslösch­liches erlebt, führt Daniel Pfluger nun seine Zuschauer. Die meisten Regisseure führen nur die Sänger. Pfluger aber inszeniert für die Zuschauer einen Erkenntnisvorgang, der mit dem ersten Takt der Oper beginnt und mit dem letzten endet. Gerade, bevor der Vorhang fällt, wird nämlich hinter der Humanitäts­pose des Diktators noch die blutgetränkte Wirklichkeit sichtbar. - Solch einen aufdeckenden Erkenntnis­vorgang nannte man zur Mozartzeit "Progression", das heisst ein streng gefasstes, gedanklich einwandfrei gemeistertes Fortschreiten vom Ausgangs- zum Zielpunkt, mithin die Herausarbeitung des grossen, werkumspannenden Bogens.

 

Bei geschlossenem Vorhang beginnt die Ouvertüre. Man merkt nach wenigen Takten, dass Mozart da noch nicht bei "Figaro" oder "Così" angekommen ist; nicht einmal bei "Idomeneo". Da wird der rote Samtstoff aber schon auseinandergezogen, und das Auge wird mobilisiert. Man blickt, fast wie bei den Brecht­schen Schrifttafeln, auf die Buchstabenfolge ROMA. Damit ist ein Begriff gesetzt. Und eine Epoche. Und ein Ort. Man wartet nun, dass sich die Szene belebe. Aber nichts geschieht. Und nach einer Weile gleitet der Vorhang wieder zu. Das ist nun höchst irritierend. Technische Panne oder was? Warum bricht der Dirigent die Vorstellung nicht ab? Man wendet sich wieder der Musik zu. Aber mit dem Dösen ist es vorbei. Und da geht der Vorhang auch schon wieder auf. Jetzt sehen wir, wie auf den Fresken von Fellinis "Roma", einen römischen Imperator mit seiner Entourage in jener versteinerten Pose, in der sich diese Machtmenschen der Nachwelt überliefern wollten. Wenn der Vorhang zum dritten Mal auseinandergeht, zeigt das Auftreten von Besuchern in heutigen Kleidern an, dass sich die versteinerte römische Gesellschaft in einer Museumsvitrine befindet. In ihr werden sie in einem nächsten Bild von den Kuratoren für eine neue Aufstellung bereit­gemacht, und in dieser neuen Aufstellung führen sie uns in Akt 1 der Oper.

 

So gleitet das Publikum schichtweise in die Ferne vergangener Zeiten. Schon werden die Figuren lebendig, schon wird man in ihr Schicksal hereingezogen, leidet mit, bangt mit, hofft mit – und in dieser Verschmelzung von Vergangenheit und Gegenwart, Ferne und Nähe nimmt die Aufführung die unauslöschliche Qualität einer Begegnung an.

 

Sie kommt nur zustande, weil die Sänger lebensecht wirken, obwohl sie sich doch kaum bewegen. Aber durch ihren Gesang und die einzelne, bewusst gesetzte, charakteristische Bewegung erfassen sie uns mit der Wahrheit der Figur und mit der Wahrheit der Situation. "Clare et distincte", sagte dem Descartes, und er bezeichnete mit diesem Begriffspaar das Kriterium für die Wirklichkeit einer Erscheinung. Die Aufführung schafft diese Wirklichkeit. Grosse Kunst.

 

In der Pause ist klar: Mit diesem "Lucio Silla" schuf das kleinste Stadttheater der Schweiz den Höhepunkt des Opernjahrs, jedenfalls soweit der Horizont der "Stimme" reicht. Am Champagnertisch treffen sich die Gäste wie in Trance. "Diese Kostüme!", ruft die ehemalige Kostümfrau der Münchner Staatsoper. "Diese Stimmen!", strahlt die Klavier­spielerin. "Und erst die Intelligenz, mit der die Räume geschaffen werden!", stellt der Grafiker fest. Man spricht von nichts anderem als vom Glanz dieser Premiere. Dann geht die Vorstellung weiter. Dirigent Predrag Gosta betritt den Orchestergraben. Da ruft eine laut vernehmliche Stimme aus der Galerie: "Bravo, Maestro!"

 

Wenn so viel zusammenkommt, kann man, ohne zu übertreiben, von einem Ereignis reden.

Die Zeichen kennen wir heute noch.

Die Figuren sind lebensecht ...

... trotz minimalistischer Gebärden.

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