Als Venus: "Eine absolut realistische Figur". © Philipp Zinniker.

 

 

 

Tannhäuser. Richard Wagner.

Oper.                  

Kevin John Edusei, Calixto Bieito, Rebecca Ringst. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 26. März 2017.

 

 

Schon die ersten Töne schlagen das Ohr in Bann durch die Sicherheit, Schönheit und Kraft, mit der sie Richard Wagners "grosse romantische Oper" eröffnen. Im Piano gestalten Klarinette, Fagott und Horn das Intervall des Pilgerchors. Zuerst ein Sprung hinauf (Viertel – Halbe), dann der Rückfall. Ein zweiter Anlauf, aber in kleineren Schritten (Dritteln). Und wieder kann sich die Melodie nicht oben halten. Die Tiefe zieht sie erneut hinunter. Nun kommen die Streicher dazu, auch sie in aufstrebender Bewegung: Zuerst die Celli, dann die Bratschen, und schliesslich die Geigen. Das Crescendo steigert die Inbrunst, ohne die Melodie aus ihren gegensätzlichen Strebungen zu befreien. "Zwei Seelen wohnen, ach! In meiner Brust, / Die eine will sich von der andern trennen; / Die eine hält in derber Liebeslust / Sich an die Welt mit klammernden Organen - / Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust / Zu den Gefilden hoher Ahnen." So entfaltet sich im Thema des Pilgerchors die Vergeblichkeit des Ringens, sich der Erdenschwere und Fleischeslust zu entwinden und ganz im Heiligen zu leben.

 

Das Berner Symphonieorchester unter Kevin John Edusei realisiert die Partitur souverän und klangschön. Beeindruckend die Stabilität des Tempos, die schlanke, lichtvolle Anlage des Ganzen. Dementsprechend gestaltet sich das Vorspiel zum dritten Akt und die Rom-Erzählung: ein Klangbild ohne Patina, exakt gefasste, entschlackte Musikalität, Noblesse statt Pathos - eine "Tannhäuser"-Interpretation für unsere Zeit.

 

Und nun erst, wenn die Sänger auftreten! Venus (Claude Eichenberger) vibratolos, strahlend, kraftvoll, aber auch innig und zugewandt: "Geliebter, sag, wo weilt dein Sinn?" Ihre Gegenspielerin Elisabeth (Liene Kinča), vom selben Rang, mit ausserordentlich sauber geführter Linie: "Dich, teure Halle, grüss ich wieder". Makelloser Glanz, subtile Gestaltung der Melodiebögen bis zum "Nimm dich gnädig meiner an". Ebenso untadelig der Landgraf: Auch bei ihm lassen schon die ersten Töne aufhorchen, namentlich im zweiten Akt, so kraftvoll ist die Erscheinung, so schön das Timbre ("Dich treff ich hier in dieser Halle"). Kai Wegener übertrifft hier sogar seinen Mephisto. Liegt es daran, dass sich der Sänger in der deutschen Sprache heimischer fühlt als in der französischen? Oder daran, dass Wagner der bessere Komponist war als Gounod? Wahrscheinlich an beidem. - Dieselbe Entwicklung zeigt Jordan Shanahan als Wolfram von Eschenbach. Das intensive Spiel, mit dem er sich der Rolle hingibt, steigert seinen gesanglichen Ausdruck. Ein Wolfram der Extraklasse, wenn auch für Romantiker in der Tongebung nicht verschattet genug.

 

Als Tannhäuser meistert Daniel Frank seinen Part mehr als anständig, und vor allem: er hält ihn bis zum Schluss durch. Das allein ist schon bemerkenswert. Technisch indes liesse sich eine Steigerung denken. Frank setzt seine Stimme auf den Luftstrom wie ein Hornist. Das führt zu leichter Verzögerung im Tempo, verbunden mit anschwellender Tonbildung. Aber vielleicht moniert das nur ein Beckmesser.

 

Für seine Berner Inszenierung hat Calixto Bieito die Zuschauer vom Skandal der katholischen Erlösungslehre verschont, die Wagners "Tannhäuser" strukturiert. Es gibt hier kein Oben und Unten, kein Diesseits und Jenseits, keinen Himmel, keine Hölle. Die Menschen haben zwar Probleme, aber sie haben keine Sünden. Und damit auch keine Erlösungungsbedürftigkeit und kein Jenseitsstreben. Askese ist Verklemmtheit, Glaube Realitätsverdrängung. Mit der Beschneidung der Transzendenz bewegt sich also die Aufführung ausschliesslich auf der Parterre-Ebene unserer wohlbekannten entgöttlichten Welt.

 

Statt der heidnischen Venus und der Heiligen Elisabeth bringt die Inszenierung nun Frauen, die man körperlich berühren kann und auch bis zu ihren intimsten Teilen körperlich berührt: "Für die Venus wollte ich absolut eine realistische Figur. Das ist eine Frau, die im Wald lebt, im direkten Kontakt zur Natur. Körperlich fühlt sie sich vollkommen frei ..." Im Programmheft-Interview führt Calixto Bieito weiter aus: "Auch im Fall der Elisabeth wollte ich eine Person aus Fleisch und Blut, ganz sicher keine Heilige. Ich suchte nach zwei sehr unterschiedlichen Frauentypen, doch immer ging es um ganz reale Charaktere."

 

Diesem zeitgenössisch-unromantischen Ansatz entspricht auch die Ausstattung. Wie in Franz Grillparzers dramatischem Gedicht "Das goldene Vlies", das zur Zeit in Linz auf dem Spielplan steht, und in der "Orestie" des Aischylos, die letzte Woche im Burgtheater Premiere hatte, bringt Rebecca Ringsts Bühnenbild Nebel, Regen, Pfützen, und die Sänger reissen sich die Hemden vom Leib. Calixto Bieito: "In meiner Inszenierung des Tannhäuser befinden wir uns am Ende in einer postkapitalistischen Welt, in der jeder verloren ist." Mit diesem entmythologisierenden, erzrealistischen Ansatz kam Calixto Bieito an der Premiere beim protestantisch-nüchternen Publikum gut an. Es gab kein einziges Buh.

Die Sänger reissen sich die Hemden vom Leib.

Das Bühnenbild bringt Nebel, Regen, Pfützen.

 
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