So fügt sich alles nach Gesetzen, die niemand versteht. © Annette Boutellier.

 

 

 

Amerika. (Der Verschollene). Franz Kafka. (Bühnenfassung von Viktor Klima und Pavel Kohout, bearbeitet von Ueli Jaeggi und Malte Ubenauf.)

Schauspiel.                  

Ueli Jaeggi, Werner Hutterli, Gerti Rindler-Schantl, Martin Schütz, Lisa Böffgen. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 18. Dezember 2016.

 

 

Bereits im ersten Roman hat Franz Kafka sein Thema gefunden: Wie einer sich und der Welt abhanden kommt. Das Wort "Amerika" (unter dem Max Brod den Text nach Kafkas Tod zur Veröffentlichung brachte), steht für die Unermesslichkeit des Raums, in die es die Hauptfigur Karl Rossmann verschlägt; es steht für die Heimatlosigkeit des Vertriebenen im Wirbel des "go west"; und es steht für die mühselige Existenz eines Menschen, der nie ankommen darf und nie ankommen kann. Konsequenterweise verliert sich seine Spur. Der Roman bleibt, wie auch die späteren, Fragment.

 

Konsequenterweise gibt ihm Kafka in seinem Tagebuch den Titel "Der Verschollene". Und konsequenterweise bricht die Aufführung ab nach dem Satz: "Sie fuhren zwei Tage und zwei Nächte. Jetzt erst begriff Karl die Grösse Amerikas." So fügt sich in dieser literarischen Entropie konsequenterweise alles nach Gesetzen, die niemand versteht: Nicht der Autor, nicht seine Hauptfigur, nicht der Leser. "Bei Kafka kommt man ins Bodenlose", pflegte der grosse Killy zu sagen.

 

Mit ihrer kargen Industriearchitektur sind die Vidmar-Hallen der angemessene Ort für diesen Stoff, und Bühnenbildner Werner Hutterli verlängert ihre schwarze Trostlosigkeit in die Immensität des Spielraums. Der dunkle Bühnenboden wird umfasst von einer Galerie, die mit ihren scheppernden Metallgitterplatten die Unbehaustheit akustisch unterstreicht und sich je nach Situation als Reling, Balkon, Tribüne oder oberes Stockwerk auffassen lässt. Wie ein gutwilliger Riese gibt sich der Raum in seiner archaischen Monumentalität zu allem her: Zum Schiffsbauch, zum Warenlager, zum verfallenden Gutshof, zur Hotelhalle, zum Estrich, zur unendlichen Weite der Steppen, und immer stimmen Charakter und Ausstrahlung. Selten war ein Bühnenbild so polyvalent.

 

Die Aufführung beginnt mit dem Gedröhn von Schiffsmotoren (Musik: Martin Schütz). Die Schwarzweiss-Projektion einer Luke (Video: Lisa Böffgen) zeigt die Unermesslichkeit des wogenden Meers und setzt zugleich den zeitlichen Rahmen fest: Stummfilmzeit. (Kafka arbeitete an seinem Roman von 1912 bis 1913.) Die Aura dieser neuen Kunstform, die gleichzeitig Massenzeitalter, Aufbruch, Modernität und Vulgarität bedeutete und, wie Walter Benjamin bemerkte, zum Verlust der Einmaligkeit führte (in der Kunst wie im Leben), kurz, die Aura der Epoche und des "Amerika"-Fragments wird immer wieder heraufbeschworen durch schwarzweisse, unscharfe Bild- und Filmausschnitte und durch eingeblendete Schrifttafeln, die einzelnen Sätzen, die sonst mit den andern im Raum verloren gingen, einen rätselhaften Nachhall geben.

 

Das Spiel beginnt mit dem Auftritt Karl Rossmanns. Und gleich öffnet sich eine Falltür, die uns hinunterwirft in die Tiefe der Zeit. Denn Darsteller Philippe Graber trägt das Gesicht des jungen Peter Lorre, also jenes Schauspielers, der im Alter von 27 Jahren die Hauptrolle spielte in Fritz Langs Film "M – Eine Stadt sucht einen Mörder". Das war 1931. Wie Kafka war Peter Lorre Jude, und wie Karl Rossmann wurde er aus Europa nach Amerika vertrieben.

 

So zeigt sich schon in den ersten Spielminuten, dass Ueli Jaeggis Inszenierung durch Überblendung Mehrdeutigkeit, Assoziationsreichtum und Vielschichtigkeit schafft. Die Aufführung ist damit so nah an Kafka, wie man nur kann. Sprache, Bild, Gebärde, Kostüm (Gerti Rindler-Schantl), Raum, Klang und Geräusch werden ineinander verwoben zu einem Netz von Bezügen, das der rätselhaften Fremdheit aller Dinge gerecht wird. Die Handlung schreitet unerbittlich wie Chronos voran und führt Karl Rossmann vom heimatlichen Prag (wo auch Kafka wohnte) immer weiter und weiter fort, step by step.

 

Wir erkennen zwar immer, wer vor uns steht und worum es geht. Das Gesetz aber, das den Verlauf der Geschichte regiert, durchschauen wir nicht. Von höherer Lenkung kann nicht die Rede sein. Eher von Zufall und Chaos. Demzufolge sind Stück und Aufführung für die Zuschauer eine Zumutung. Etliche desertieren in der Pause. Andere lassen die zweite Hälfte auf Standby über sich ergehen und klatschen am Ende nur noch mit halbleerem Akku. Doch so muss es sein, wenn eine ehrliche und konsequente Regiearbeit Kafkas Stimme im Raume Bern vernehmbar macht.

 

Dabei ist unübersehbar, auf welch hohem Niveau sich das Ensemble befindet. Alle, ausser Philippe Graber, haben mehrere Rollen, und alle haben darin ihre starken Momente. Das heisst, sie sind streckenweise unübertrefflich. Nico Delpy gleich als Heizer. Dann als Oberkellner. Dann als Student. Jürg Wisbach als Onkel, Oberportier, Polizist. Jonathan Loosli in aufsteigender Linie vom Kapitän zu Pollunder bis zu Robinson. Gabriel Schneider als Schubal, Mack und Delamarche, stets kraftvoll, ein Gewinn fürs Ensemble. Dann Mariananda Schempp als Klara. Eine Sensation. Und schliesslich Milva Stark. Als alter Diener und als Brunelda liefert sie eindrückliche, scharf umrissene Porträts. Und dann hängt alles an ihren Lippen. Denn der Traum vom grossen Naturtheater von Oklahoma wird nicht inszeniert. Er wird nur erzählt. Von ihr. Und so kommt die grosse, reiche Aufführung nach zweieinhalb Stunden zum blanken Wort, wie es aus Kafkas Feder floss. Und während Milva Stark spricht und bloss spricht, baut sich vor unserem inneren Auge das Wunder jenes Unternehmens auf, in dem jeder gebraucht wird, wie er gerade ist, so wie Gott jeden liebt, wie er gerade ist.

 

Während Milva Stark von diesem Wunder berichtet, kauert Karl Rossmann, ausgezogen bis aufs Unterhemd, in einem Zwischenreich ohne festen Boden unter den Füssen auf den Metallstufen einer Wendeltreppe, den Zuschauern abgewandt, wie ein Sträfling, der am Ende seines Weges angekommen ist. Ob er die Vision noch hört? Ob er sie teilt? - Wir haben den Schauspieler mit dem Gesicht des jungen Peter Lorre längst ins Herz geschlossen. Wenn wir Gregor Samsa begegnen, werden wir fortan an ihn denken, den Darsteller des Verschollenen, Philippe Graber.

Von höherer Lenkung kann nicht die Rede sein.

Mariananda Schempp als Klara. Eine Sensation.

 
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