Zum letzten Mal miteinander auf der Bühne: David Berger, Sophie Melbinger, Tobias Krüger. © Annette Boutellier.

 

 

 

Die Abenteuer des Tom Sawyer. Mark Twain (Bühnenfassung Marco Süss).

Schauspiel.                  

Patricia Benecke, Konstantina Dacheva, Fabian Chiquet, Patrik Zeller. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 10. Dezember 2016.

 

 

Das Abenteuer beginnt in der S4, die von Sumiswald-Grünen herkommt und in Burgdorf zusammengekoppelt wird mit der Komposition aus Solothurn. Helle Kinderstimmen erfüllen den Fahrgastraum und in Bern, wo es herrlich hallt, den Bahnhof. Aber die Lehrerinnen haben ihre Truppe im Griff. Vor dem Abgang rufen sie: "In Zweierkolonne einstehen! Sonst geht ihr verloren!" So marschiert das junge Volk jetzt wohlgeordnet durch die Unterführung, hinauf ans Vormittagslicht der Neuengasse, wo jetzt schon mehr Leute unterwegs sind als in Ranflüh den ganzen Tag.

 

Untadelig auch der Einmarsch ins Stadttheater: "Beisammen­bleiben! Die Rucksäcke da schön alle auf einen Haufen! Wir werden alle miteinander hineingehen. Muss vorher noch jemand aufs WC?" Die Arme fliegen hoch. "Nicht alle aufs Mal! Man wartet vor der Tür, bis jemand herauskommt!" Zum Schluss geht's endlich in den Saal, auf die zugewiesenen Plätze. Und darum herum sind schon viele, viele andere Kinder. Auch welche aus Dürrenroth. Und welche von der ersten Klasse. Im ganzen Theater rufen die kleinen Münder und winken die kleinen Arme: "Manuel schau, da bin ich!"

 

Der Musentempel hat sich in einen Vogelkäfig verwandelt. Die hellen Stimmen dringen in alle Ecken des Hauses, ins Treppenhaus, ins Foyer, und die wenigen Erwachsenen, die sich da begegnen, grüssen sich mit belustigtem Blick: Stephan, der Intendant, Susanne, die Pressefrau, Margrit, die Garderobiere. Für einmal braucht das Theater die Durchsage nicht laufen zu lassen, Bild- und Tonaufnahmen seien aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet, und man solle bitte das Mobiltelefon ausschalten. Denn heute hat niemand ein Handy mit in den Saal genommen. Ein Ausnahmezustand; die Lehrerinnen haben für ihn gesorgt.

 

Und jetzt sorgt das Theater dafür, dass auf einen Schlag alle mäuschenstill werden. Matthias Urech ist mit der Gitarre vor den Vorhang getreten: "Tschou zäme!" Er greift ein paar Akkorde. Die Aufmerksamkeit erreicht die Spitze. Gerade, bevor sie abklingt, kommt ein zweites, dann ein drittes Instrument dazu: Simon Heggendorn mit der Violine, Marco Widmer mit der Posaune. Das genügt, um das junge Publikum zu fesseln. Gerade aber, bevor die Spitze wieder abflacht, geht der Vorhang auf, und jetzt stellt sich das fünfköpfige Schauspielerensemble singend und tanzend vor. Man sieht: Die Einleitung zu den "Aben­teuern des Tom Sawyer" gleicht einer aufwärtsstrebenden Geraden von Sumiswald-Grünen aus bis an den Berner Kornhausplatz, und mit der Gestaltung des szenischen Anfangs beweist Regisseurin Patricia Benecke ein sicheres Gespür für Timing und Dosierung der Effekte.

 

Das Theater aber hat noch mehr zu bieten: Die längsten Schaukeln, länger als die in der Turnhalle der Primarschule Rüegsau, und die grösste Leinwand, grösser als die in der Aula der Sekundarschule Zollbrück. Da können die Produktions­leiterin Bühnenbild Konstantina Dacheva und der Videomann Fabian Chiquet zeigen, was das Theater alles so drauf hat. Und wenn dann noch Bühnenmeister Paolo Rütti in der grauslichen Friedhofsszene dicken Nebel übern Bühnenboden wabern lässt und der Leichnam im fahlen Grab buchstäblich auftaucht, indem ein Podest hochgefahren wird, hält es die Kinder nicht mehr auf ihren Sitzen. Mit offenem Mund saugen sie die Szene ein, und wenn sie Wucht hatte, wird sie sie fortan bis in die Träume hinein verfolgen.

 

Es gibt noch zwei weitere Höhepunkte im Lauf des Vormittags. Vor der Pause das Fischen im Mississippi. Die Schauspieler werfen grosse Plastikbiester ins Publikum und hängen dann ihre Angelschnüre in den Saal. Wenn die Kinderhände die Fischmäuler am Haken befestigt haben, können die Schuppentiere an Land, das heisst auf die Bühne gezogen werden. In den Zuschauer­reihen gehen die Hände zu Dutzenden hoch: "Ich auch! Ich auch!" Und: "Noch einmal, bitte, noch einmal!" Wieder stimmt das Timing. Bevor sich der Effekt abgenutzt hat, geht es mit der Handlung weiter.

 

Und dann das Singen. Ein Kleiner murrt zwar: "Geht's noch? Wir sind kein Chor!" Aber dann machen doch alle mit, und wie. David Berger, der Darsteller des Huckleberry Finn, braucht nur die Hand zu bewegen, und schon wissen die Kinder, was sie ("a tempo", wie es in den Partituren heisst) einzuwerfen haben. "Tom und Becky sind": "verliebt!" – "verkracht!" -"verliebt!" – "verkracht!" Es ist unabweislich: Das Ereignis in dieser Produktion sind nicht die Erwachsenen, die Theater machen, sondern die Kinder, die zuschauen. Auch wenn gegen das Ende der Vorstellung hin die Aufmerksamkeit nachlässt, der kleine Nebenmann seine Uhr konsultiert und der kleine Vordermann sich immer wieder umdreht, um den Mädchen die Zunge herauszustrecken, ist da immer noch der blonde Achtjährige im ersten Rang links, der von der Aufführung so angezogen wird, dass er fast über die Brüstung fällt. Und in seinem Gesicht leuchtet die selige Verzückung jener Menschen, denen der Himmel aufgegangen ist.

 

Es braucht also wenig, um beim Schülerpublikum der unteren Klasen aus dem Emmental anzukommen. Als Textvorlage genügt die Bastelei des Jugendtheatermanns der Württembergischen Landesbühne, die mit furchtbar bundesdeutschem Idiom die grosse, weite Welt von Leipzig bis Esslingen ins Theaterhaus der Bundesstadt trägt. Dramaturgie (Elisabeth Caesar, Lea Lustenberger), wo sind Ohren?! Die Regisseurin kann sie nicht haben, denn sie ist Engländerin. Sie merkt auch nicht, dass "ein Viertel des Texts von den jungen Darstellern weggenuschelt wird, wie so häufig beim Einsatz von Microports". (Das Zitat stammt aus dem Materiallager der Textbausteine.)

 

Patricia Benecke genügt es, aufs Timing zu achten und die Szene gefällig zu arrangieren. Als Tom Sawyer darf Tobias Krüger ein letztes Mal die Wendigkeit seines Körpers demonstrieren, bevor er Bern am Ende der Spielzeit verlassen muss. Auch Sophie Melbinger geht. Sie spielt die Becky, als wäre sie schon weg. So wird die Aufführung dem Kritiker bald zur Qual. Und tief durchdringt ihn während der ganzen Spieldauer die Wahrheit der Bibelstelle: "Jesus rief ein Kind zu sich und stellte es mitten unter sie und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen."

 
 
 
 
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