Ein weisses Ding, das man als freudschen Phallus lesen kann. © Annette Boutellier.

 

 

 

Mondkreisläufer. Jürg Halter.

Theatergedicht.                  

Cihan Inan, Konstantina Dacheva, Anouk Bonsma. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 11. September 2016.

 

 

Der grösste künstlerische Fehler seines Lebens, bekannte Literaturnobelpreisträger André Gide, sei gewesen, dass er als Lektor des Gallimard-Verlags "Du côté de chez Swann", den ersten Band von Prousts "Recherche", zurückgewiesen habe. Für dieses Fehlurteil müsse er sich bis ans Ende seiner Tage schämen.

 

Der grösste künstlerische Fehler der Burgtheater-Dramaturgie, bekennt die führende Sprechbühne heute, sei die Abweisung von Werner Schwabs "Präsidentinnen" gewesen, die mittlerweile zu den Klassikern der Gegenwart gehören und unterdessen auch schon zweimal an der Burg inszeniert wurden.

 

Und jetzt Jürg Halters "Mondkreisläufer": Wie hätten André Gide und die Burgtheater-Dramaturgie reagiert, wenn ihnen das Manuskript vorgelegt worden wäre? Das Berner Schauspiel hat die "Heimsuchung in vier bis unendlich vielen Akten [sic]" angenommen und Cihan Inan zur Uraufführung anvertraut. Der künftige Berner Schauspieldirektor hat das "Inszenierungs­konzept" mit dem Autor erarbeitet und die Produktionsleiterin Bühnenbild, Konstantina Dacheva, unter der Position "Mitarbeit Bühne" damit beauftragt, ein weisses, rechteckiges Podest in die Mitte der Spielstätte Vidmar 2 zu stellen. Aus der Fläche erhebt sich ein weisses Ding, das man je nach Neigung als Anspielung an den godotschen Baum, die indische Weltsäule oder den freudschen Phallus lesen kann. Der Text selber gibt darüber keine Auskunft.

 

Der Aufragung entspricht auf der andern Seite des Korpus ein in den Boden ausgehauenes Rechteck, das man je nach Neigung als Badewanne, (Lukas Linder: Der Mann in der Badewanne, Uraufführung 2012), als Grab oder freudsche Vagina lesen kann. Der Text gibt darüber keine Auskunft.

 

Immerhin können die Schauspieler (oh, nur in bescheidenem Mass!) mit diesen beiden einzigen Bühnenbildelementen spielen. Sie können sich an die Aufragung halten, sie können sich an sie lehnen, und sie können darum herum gehen. Und in die Kavität anderseits können sie sich setzen oder legen. Das ist immerhin sowas wie Aktion.

 

Die Schauspieler in ihren weissen Einheitskostümen (Anouk Bonsma) werden atmosphärisch unterstützt von farbigen Lichtwechseln, Geräuschen wie Donnerrollen oder Trommeln und Einblendungen von zarten klassischen E-Musik-Klängen. Über den Zweck dieser Veränderungen gibt der Text keine Auskunft. Er plappert, wie weiland Winnie im Sandhaufen (Uraufführung 1961), ungerührt vor sich hin, meist monologisch, ab und zu auch dialogisch, und am Ende gar chorisch gebrüllt.

 

Anfangs kommt das "Theatergedicht" erfreulich verständlich daher. "Eine Rede ist keine Schreibe", hat Tucholsky postuliert, und Jürg Halter hat sich an den Rat des Verewigten gehalten. Der Eingang handelt davon, was Gedanken sind, wie sie einen von unbekanntem Ort her anspringen und fortreissen an unbekannte Orte, wo das Unerwartete immer wieder auftaucht und aufblitzt und Reflexionsspiele schafft, die mal funkeln, mal ernüchtern – eine tolle Rutsche, die ins Becken der Sprachproblematik führt (Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief, 1902), der Erkenntnisproblematik (Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, 1922) und der Sprach- und Identitätsproblematik (Peter Handke: Kaspar, Uraufführung 1968).

 

Nach zehn Minuten aber hat der Dreh, mit dem Halter die Sprache vorantreibt, den Reiz des Neuen verloren. Die Eingeschlossenen auf der Bühne und den Zuschauersitzen müssen indes noch "vier bis unendlich viele Akte" miteinander durchschwimmen wie bei René Pollesch (seit 2001) und Sibylle Berg (seit 1999). Die Floskeln und Sprachspiele, die unserer Alltags-, Berufs- und Medienwelt entstammen wie weiland Hüschs Hagenbucher-Geschichten (1978), sind so bekannt und ubiquitär, dass die Zuschauer sie im Reiz des Wiedererkennens immer wieder mit Gelächter begrüssen, als handelte es sich um Pointen.

 

Man kann die Banalitäten jedoch, die das Stück hin und herrührt, je nach Neigung auch als Ausdruck von Ironie, Zynismus, Anklage oder Verzweiflung lesen. Man kann sogar, mit dem Mikroverstärker, vereinzelte Tiefsinnspartikel erkennen, obgleich verschwommen.

 

Am besten jedoch fährt man, wie der Programmzettel rät, wenn man den "Mondkreisläufer" als "künstlerischen Protestakt gegen zu viel, zu einfaches, zu reduziertes, zu selbstgerechtes Verstehen" auffasst, bei dem "wir Zuschauer" (darauf laufen alle solchen Sachen hinaus), "uns selbst fragen dürfen, wo wir uns befinden und wer wir sind". Fest steht aber von Anfang an, dass wir "keine Antwort finden" werden.

 

Unter diesen Bedingungen lässt sich über die Leistung der Schauspieler nicht viel sagen. Sie haben keinen Part zu gestalten, keinen Charakter herauszuarbeiten, keinen, oder zumindest keinen erkennbaren, Subtext zu spielen, sondern lediglich die Sätze eines "Theatergedichts" aufzusagen und dabei zu kauern, zu gehen, zu stehen. Diese Funktion erfüllen Milva Stark, Irina Wrona, Nico Delpy und Gabriel Schneider loyal als bescheidene Teamplayer.

 

Ach, Salomo! "Des vielen Büchermachens ist kein Ende, und viel Studieren macht den Leib müde." (vermutlich 3. Jh.)

Auf der andern Seite ein Rechteck als Grab oder Vagina.

Unter diesen Bedingungen lässt sich über die Leistung der Schauspieler nicht viel sagen.

 
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