Zu ebener Erde und erster Stock. Johann Nepomuk Nestroy.

Posse.                  

Susanne Lietzow, Aurel Lenfert, Marie Luise Lichtenthal. Volkstheater Wien.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 21. März 2016.

 

 

Über dem Wiener Volkstheater liegt ein dreifacher Unsegen: Es ist zu alt; es ist zu gross; und es liegt jenseits des Rings. Emmy Werner, die das Haus 17 Jahre lang geleitet hat, klagte am Ende, dass keine ihrer Produktionen von der Burg zur Kenntnis genommen worden sei; nie sei jemand von dort herüber­gekommen, um die Arbeit ihrer Schauspieler zu sehen. Umgekehrt ist auch kein Schauspieler vom Volkstheater ans Burgtheater gekommen. Einer der wenigen war Fritz Muliar, und das passierte 1974.

 

Vielleicht liegt dieser Unsegen darin begründet, dass sich das Volkstheater bei seiner Gründung als Gegenentwurf zum Haus am Ring verstand. Dort, am Rand der Inneren Stadt, traf sich der Adel. Und so war das k.k. Hofburgtheater die Bühne der Aristokratie, ehrwürdig, traditionsbewusst, rückwärtsgewandt. (Ibsens "Gespenster" durften dort nicht gespielt werden, trug doch die Krankheit im Stück den unaussprechlichen Namen Syphilis!) Am Rand des 7. Bezirks, der charakteristischerweise "Neubau" heisst, entstand nun das "Deutsche Volkstheater" mit Betonung des modernen naturalistischen Stils und der Aufgabe, das Bildungsgut zu demokratisieren, das heisst unter dem Mäzenat des österreichischen Gewerkschaftsbunds und der Sozialdemokratie der Arbeiter- und Angestelltenschaft zugänglich zu machen. Dafür liess man von den Architekten Fellner & Helmer eines der grössten Schauspielhäuser bauen, das die Welt je gesehen hat: 1843 Plätze. Und hier liegt nun der zweite Unsegen. Seit den traditionellen Körperschaften die Mitglieder wegbrechen, lässt sich das Haus nicht mehr füllen. In verschiedenen Schritten hat man es deshalb verkleinert. Nach dem 2. Weltkrieg auf 1539 Plätze; zu Beginn der 1980er Jahre auf 1148 Plätze. Es waren immer noch zu viel. Man entfernte im Parterre die hinteren Sitzreihen und stellte eine Sofa-Landschaft in den freigewordenen Raum: 970 Plätze. Schliesslich wurde bei der Sanierung von 2014 das Parkett vollkommen umgestaltet: An die Stelle der alten Sitzreihen kam eine steil ansteigende Zuschauerrampe, "Arena" genannt, mit der sich die Platzzahl nochmals reduzieren liess – auf heute 840 Plätze.

 

Aber immer noch ist das Volumen des Zuschauerraums zu gross. Im Riesenraum geht der Schall zu weit nach oben und hinten. Das zeigte sich wieder bei der bemerkenswerten Inszenierung von Nestroys Posse "Zu ebener Erde und erster Stock". Nur ein knappes Drittel der Schauspieler (4/15) war verständlich. Glücklicherweise die vier wichtigsten. Sie standen denn auch beim Schlussapplaus in der Mitte: Die beiden Liebenden (also, gottseidank, zwei Junge), und (kein Wunder) die beiden Väter, deren einer, Stefan Suske, unter Gramss lange Zeit in Bern beschäftigt gewesen war.

 

Früher, in der guten alten Zeit, war die Wortverständlich­keit eine Aufgabe der Direktion. So stellte Jakob Minor bei Adolf Sonnenthal (dem Wallenstein, dem Nathan, dem Lear des Burgtheaters) fest: "Selbst die treuen Wiener sagten: 'Er redet wie verschnupft'. Zum Teil hing das ja mit dem Ansatz der Stimme tief hinten am Gaumen zusammen; zum grössten Teil aber war es die Schuld mangelhafter Artikulation. Hier merkte man, dass es im Burgtheater lange Jahre an einem treuen Spiegel gefehlt hat; dieser Spiegel, den auch der grösste Schauspieler nicht entbehren kann, ist der Direktor. Lewinsky und Robert haben bei Laube sehr scharf artikulieren gelernt."

Die unscharfe Artikulation des überwiegenden Ensembleteils am Volkstheater (11/15) hatte nun zur Folge, dass Nestroys Wortwitz beim schwer vergreisten Publikum der Repertoire­vorstellung nicht zünden konnte.

 

In dieser hoffnungslosen Überalterung liegt der dritte Unsegen des Volkstheaters. Das Auffassungsvermögen der Zuschauer hat sich so verlangsamt, dass sie nur noch glotzen, nicht aber mehr aufnehmen und reagieren können. Für die Darsteller ist das fatal. Sie spielen wie in Watte und spüren das Gegenüber nicht. Unter diesen Umständen wurde die Tatsache, dass Susanne Lietzow (Regie), Aurel Lenfert (Bühne) und Marie-Luise Lichtenthal (Kostüme) eine Aufführung zustandebrachten, die alle Nestroy-Produktionen des Burgtheaters in die Ecke "brav und uninspiriert" verwies, vom Abonnentenpublikum nicht bemerkt, geschweige denn honoriert. Zu hässlich war ihm die deftige Politfolklore, mit der "zu ebener Erde" Manfred Deix und das Völkergemisch von "Transdanubien" (den Bezirken jenseits der Donau mit hohem Ausländeranteil) auf die Bühne zitiert wurden.

 

Wie sich der neue Elan, die neue Sichtweise und das neue Ensemble aufs unselige Haus auswirken werden, ist zur Zeit noch ungewiss. Alle wissen: Die erste Spielzeit der neuen Direktorin Anna Badora ist noch nicht vorbei – und auch noch nicht gewonnen. "Es geht", sagte Jan Thümer, der Darsteller des Iwanow, soeben in einem Interview, "im Volkstheater immer noch Spitz auf Knopf [sic]".

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