L'Elisir d'amore. Gaetano Donizetti.

Komische Oper.                  

Giuliano Betta, Alexander von Pfeil. Theater Koblenz.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 29. Februar 2016.

 

 

Am Tag der Premiere brachte die "Rhein-Zeitung" eine umfassende Vorschau "von unserem Kulturchef Claus Ambrosius". Darin kam Giuliano Betta zu Wort: "Es ist wie immer: Wir dürfen nicht zu langsam sein – aber auch nicht zu schnell; dann ist der Rhythmus voller Kraft, jedes Staccato klingt anders – aber diese Energie muss man dann auch dauerhaft halten, dabei kontrollieren und steuern." Der Dirigent unterstützte mit seiner Auffassung für Gaetano Donizettis komische Oper "Der Liebestrank" ein trendwidriges Regiekonzept: "Viele Produktionen, die ich kenne, haben mich erschreckt", erklärte Regisseur Alexander von Pfeil der "Rhein-Zeitung": "Zu bunt, viel zu sehr an der Oberfläche". von Pfeil plädierte stattdessen für einen "ernsthaften Ansatz". Was damit gemeint war, zeigte sich an der Premiere.

 

Es war mehr als Ernst. Zugrunde lag der Inszenierung ein schwermütig verhaltenes Staunen über die seltsamen Geschicke der Menschen. Es verwandelte die Kriegs- und Liebeshändel des "Melodramma giocoso" zur Lebensoper. Auf diese Weise kam im vielschichtig differenzierten Mikrokosmos eines Dorfs zur Fellini-Zeit Novalis' tiefgründiger Satz zur Anschauung: "Das Theater ist die tätige Reflexion des Menschen über sich selbst." Das Sensibilitäts- und Sinn-Genie Alexander von Pfeil stiess mit dieser Konzeption in die Dimension der schwarzen Löcher vor. Eine exzeptionelle Leistung.

 

Die Aufführung beginnt mit stummem Spiel. Auf dem leeren Dorfplatz sitzt Nemorino unter den Strassenlaternen. Er betätigt eine mechanische Schreibmaschine und bringt seine unerwiderte Liebe zu Adina in die Form von Text, Literatur, wenn nicht gar Poesie. In der Wirklichkeit, die Alexander von Pfeil annimmt, ist der belächelte Dorftrottel ein schlaksiger Intellektueller, und seine Ausgrenzung durch die Dorfgemeinschaft bestätigt die pessimistische Weltsicht Schopenhauers: "Die meisten Menschen haben, wenn auch nicht mit deutlichem Bewusstsein, doch im Grunde ihres Herzens als oberste Maxime und Richtschnur ihres Wandels den Vorsatz, mit dem kleinstmöglichen Aufwand von Gedanken auszukommen; weil ihnen das Denken eine Last und Beschwerde ist. Demgemäss denken sie nur knapp so viel, wie ihr Berufsgeschäft schlechterdings nötig macht, und dann wieder so viel, wie ihre verschiedenen Zeitvertreibe, sowohl Gespräche als Spiele, erfordern, die dann aber beide darauf eingerichtet sein müssen, mit einem Minimo von Gedanken bestritten werden zu können. Fehlt es jedoch in arbeitsfreien Stunden an dergleichen; so werden sie stundenlang am Fenster liegen, die unbedeutendsten Vorgänge angaffend, und so recht eigentlich das 'ozio lungo d'uomini ignoranti' [die Langeweile des Unwissenden] des Ariosto uns veranschaulichen, eher als dass sie ein Buch zur Hand nehmen sollten; weil dies die Denkkraft in Anspruch nimmt."

 

Nun dringt Lärm aus der Kulisse: Ein schwerverletzter Soldat taumelt auf die Bühne. Karabiner und Rucksack fallen ihm aus der Hand. Er bricht zusammen. Da setzt die Musik ein – erst da. Das energische Vorspiel dient nicht länger zur Beruhigung der schwatzenden Zuschauer, sondern die Komposition wird vom ersten Takt an zum Handlungs- und Bedeutungsträger. Schon ist der Ernst zu greifen, der die Aufführung aus der unüberseh­baren Menge der "Elisir"-Inszenierungen heraushebt: Es ist der Ernst der Kriegslage, in der die Oper "eigentlich" spielt; es ist der Ernst der Ich-Du-Beziehung, um die Nemorino und Adina miteinander ringen; und es ist der Ernst des Regiehandwerks, mit dem die meist übersehenen und deshalb nicht inszenierten grossen Bögen herausgearbeitet werden.

 

Die Dorfbewohnerinnen, die der Zusammenbruch des Soldaten auf den Platz gerufen hat, nehmen sich des Verwundeten an, flössen ihm Grappa ein, erlesen seinen Tornister auf der Suche nach Verbandstoff und stossen dabei auf ein Büchlein, in dem Adina belustigt blättert. "Worüber lachst du?", fragt das Volk. "Es ist die Geschichte von Tristan, die Chronik einer Liebe", antwortet Adina und liest die Stelle vor, die vom Liebestrank handelt. Der verwundete Soldat trug also Gedrucktes bei sich. Er erweist sich damit als romantisches Gemüt und als Geistesverwandter Nemorinos.

 

An seinem Tod lässt sich folglich ablesen, was Nemorino blüht, wenn er sich für zwanzig Zechinen dem Soldatenstand verschreibt. Doch der gockelhafte Korporal zwingt ihn, aus dem Helm des Vorgängers zu trinken: "Glaub mir, wahre Freude gibt es nur im Militär!" So wird der Trunk zum Symbol: Liebes­rausch, Machtrausch und Todesrausch fliessen ineinander. Dieser Konfluenz entspricht Dulcamaras Arzneitrank: "Er heilt alle Gebrechen, alle Mängel der Natur", singt der Scharlatan, und er verspricht: "Die alten Mähren bringt er auf die Beine." An dieser Stelle ereignet sich ein Wunder. Der Tote erhebt sich von der Bahre, kommt nach vorn, hält die braune Arzneiflasche an die Lippen und mischt sich triumphierend unters Volk, während unter allgemeinem Jubel der Vorhang fällt.

 

Die Regiekunst, durch die sich Alexander von Pfeil auszeichnet, liegt also darin, tief in die Werke einzudringen, sie mit inszenatorischen Mitteln weiterzuentwickeln und für sie eine Bühnengestalt zu finden, bei deren Anblick der Komponist rufen würde: "Genau so hab' ich mir's vorgestellt!" Man kann diesen Ruf heute kaum mehr hören. In diesem Sinn ist der "Liebestrank" von Koblenz singulär. Frühere Generationen hätten dafür das Wort "kongenial" verwendet.

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