The Pirates of Penzace. William Gilbert, Arthur Sullivan.

Komische Oper.                  

Mike Leigh. Saarländisches Staatstheater Saarbrücken.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 31. Januar 2016.

 

 

Der Gelehrte von der Berggasse 19 (statistisch gesehen die bekannteste Kulturadresse, noch vor dem Haus am Frauenplan und dem Pfarrhaus von Lützelflüh), der so viele Zusammenhänge entdeckte (die Gegner sagten: konstruierte), hätte auch an der saarländischen Produktion der "Pirates of Penzace" Bemerkenswertes gefunden.

 

Zunächst einmal hätte er hervorgehoben, dass das Staatstheater am Vorabend des ersten Faschingstags die Besucher einlud, der Vorstellung kostümiert zu beizuwohnen. Die besten Verkleidungen würden in der Pause prämiert. – Maske und Kostüm erleichtern es, wie die Schauspieler wissen, in eine fremde Person einzutauchen. Demzufolge wurden die Saarländer von der Theaterleitung aufgefordert, sich mit Piraten zu identi­fizieren.

 

Piraten aber sind etwas Bedrohliches, Schreckliches, Beängstigendes, hätte der Seelenforscher aus Wien gesagt. Sie verbreiten Furcht und Schrecken (heute: Terror), indem sie Passagierschiffe kapern, die Reisenden (heute: Touristen) als Geiseln nehmen und mit ihnen Lösegeld erpressen. Die Besatzungen aber werden mitleidlos hingemetzelt. Wenn also die schwarze Flagge am Horizont auftaucht, können die friedlichen Menschen (heute: Zivilisten) alle Hoffnung fahren lassen.

 

Die Piraten, von denen die musikalische Komödie von William Gilbert und Arthur Sullivan handelt, sind mithin eine ins Harmlose verschobene Darstellung dessen, was uns in der Aktualität am meisten beängstigt: der sogenannte Islamische Staat, dessen Bandenmitglieder heute die schwarze Flagge schwingen und , wie früher die Piraten, unvorhersehbar an den friedlichsten Orten auftauchen, um Tod und Schrecken zu verbreiten.

 

Wie eng die Parallelen sind, würde Sigmund Freud an der Handlung nachweisen: In der "komischen Oper" überfallen die brünstigen Männer an der Küste Cornwalls eine Schar von Mädchen (man denkt unwillkürlich an Köln), um sie sich durch Zwangsverheiratung anzueignen (man denkt unwillkürlich an Boko Haram). Das Publikum im Saal findet den Einfall lustig. Natürlich müssen Piraten "so" handeln; ihre Handlungsweise ergibt sich aus ihrer Natur; sie ist ihnen "naturgemäss". - Wir sehen: Wenn wir uns in die Piraten hineinversetzen, können wir sie verstehen. Sie sind uns dann nicht mehr fremd. Einfühlung zieht der lauernden Angst die Zähne.

 

Ist die Angst aber gross, greift die Seele zu stärkeren Mitteln. "Die Piraten" müssen dann so aufgeführt werden, dass um Gottes willen kein Gedanke aufkommt. "Verdrängung" nannte Freud diese neurotische Massnahme. In Saarbrücken setzt sie Regisseur Mike Leigh so erfolgreich durch, dass die Piratenoper den Charakter belangloser Unterhaltung annimmt. Niemand kann sich – niemand soll sich mehr etwas dabei denken.

 

Unterstützt wird das verdrängende Regiekonzept durch die Wahl biederster Vaudeville-Ästhetik, wie sie in den grossen kommerziellen New Yorker Theatern zur Zeit der Uraufführung 1879 angesagt war, um die Säle zu füllen. Für die Inszenierung bedeutet das Beschränkung auf uninspirierte, konservative, vorhersehbare Spielzüge. Zu recht: Nur so ist ein Stück familientauglich, und nur damit multiplizieren sich die verkauften Plätze, und damit die Einnahmen, mit zwei, drei oder vier – je nach Kinderreichtum der Gegend.

 

Auf diese Weise führt uns die unbedeutende Produktion des Saarländischen Staatstheaters in die harmlose Welt der Music Hall zurück, in der unsere Ur-Ur-Urgrosseltern, aufwendig kostümiert wie heute die Saarländer, ihr Veilchenparfüm verströmten. In der Last der Tage nicht denken zu müssen und mit abwesendem Blick ein fades Stück einsaugen zu können wie milde Holunderlimonade, dafür bedankten sich die Zuschauer am Ende mit herzlichem Applaus; vielleicht auch, weil sie wussten: Was jetzt kommt, ist weniger lustig.

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