María de Buenos Aires. Astor Piazzolla.

Tango Operita.                  

Esteban Domínguez Gonzalvo, Olivier Tambosi, Karen Petermann, Teresa Rotemberg. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 12. Dezember 2015.

 

 

Esteban Domínguez Gonzalvo leitet das Orchester vom Klavier aus, und gleich merkt man: Die Sache hat Biss. Klar konturiert, exakt phrasiert, nie breit, sentimental oder schleppend bewegen sich die Solisten des Sinfonieorchesters Biel-Solothurn wunderbar sicher und kitschfrei durch Astor Piazzollas angenehme, hörerfreundliche Partitur. Mit diesen Eigenschaften bietet sich die "María de Buenos Aires" den Theatern als trendige Alternative fürs Festtagsprogramm an, das immer noch mehrheitlich mit der "Schönen Helena" von Offenbach, "My Fair Lady" von Loewe oder der "Lustigen Witwe" von Lehár bestückt wird.

 

Heute aber steht die "Kleine Tango-Oper" (Tango Operita) nicht nur in Biel-Solothurn auf dem Spielplan, sondern gleichzeitig auch in Braunschweig, Bremen, Berlin, Bonn, Edinburgh, Los Angeles, Sidney und Wien. Je nach Grösse und Ausrichtung der Häuser werden die Lieder auf zwei, drei oder vier Sänger verteilt, und für den Tanz wird da eine wirbelnde Company eingesetzt, da ein solistisches Tango-Paar. In Biel-Solothurn sind es fünf Tänzerinnen. Bei ihren Bewegungen vermeidet die Choreographin Teresa Rotemberg, die selbst aus Buenos Aires stammt, jetzt aber Wurzeln in Zürich gefasst hat, "sämtliche Tango- und Südamerika-Klischees" (Formulierung der "Los Angeles Times" in der Besprechung der dortigen Aufführung). Folglich sieht man in Biel-Solothurn keinen einzigen Tangoschritt. Auch keinen Paartanz - was, mit vier Frauen ausgeführt, das Werk inhaltlich und stilistisch ohnehin in Schieflage gebracht hätte. Stattdessen gibt es kraftvollen, rhythmisch betonten Körpertanz, mit dem die rein instrumentalen Nummern begleitet werden, ohne dass man merkt, wie eng die Verhältnisse sind. Denn für die Aktion stehen nur die Rampe und der überdeckte Orchestergraben zur Verfügung, also die Vorbühne. Die Bühne selbst ist besetzt vom Orchester. In unseren winzigen Häusern sind die Musiker damit für Auge und Ohr zum Greifen nah. Umso verwunderlicher, dass das Theater zum Mittel der elektronischen Verstärkung griff. Indem aber die beiden Sänger stets ein Mikrofon vor den Mund halten müssen, sind sie in Gestus und Ausdruck natürlich beengt. Ich kann mir diese Entscheidung nur dadurch erklären, dass sie sich stimmlich gegenüber dem Orchester nicht hätten durchsetzen können. Der Vorteil ist, dass man dem Klang jetzt Hall beimischen kann, was den Eindruck eines grossen Raums vermittelt. Der Nachteil: Das Bandoneon (Luciano Jungmann, hervorragend) erklingt – an meinem Platz - anfangs von rechts, wo es doch in Tat und Wahrheit in der Mitte gespielt wird. Eine irritierende Geschichte. [Zur Erklärung teilt Dieter Kaegi, Intendant TOBS, per Mail vom 14.12.15 mit, "dass das Werk vom Komponisten für elektronische Verstärkung konzipiert ist und auch so zur Uraufführung kam". - Kommentar M.S.: Das Faktum ist im Netz so gut versteckt, dass ich es nicht fand.]

 

Noch irritierender freilich ist das – darf man sagen: geschwätzige? – Libretto von Horacio Ferrer. Die zuverlässige, taktgenaue Übertitelungsanlage kommt beinah ins Rauchen, so viel Text ist da zu transportieren. Das Auge der Zuschauer wiederum ist gezwungen, sekundenschnell zwischen Monitor und Bühne zu switchen, bis sich herausstellt, dass sich in den Liedtexten Tiefsinn nicht immer von Unsinn auseinanderhalten lässt, und das Interesse am Wort des Dichters erlahmt. Wenn sich also die Geschichte der ankommenden, lebenden, sterbenden und irgendwie doch wieder weiterlebenden María de Buenos Aires nur sehr approximativ erschliesst, so liegt der Fehler nicht an der Auffassungsgabe des Publikums. Kein Wunder, hat es Ferrer weder in den dreissigbändigen Brockhaus noch ins zwanzigbändige Neue Literaturlexikon von Kindler geschafft. Trakl, Pindar, Horaz und Mallarmé bleiben dort unter sich. Auch Büchner, da Ponte, Wagner, Scribe, Boïto und Wedekind.

 

Bei dieser Sachlage hat sich Regisseur Olivier Tambosi gar nicht erst entschlossen, die 16 Nummern des Werkchens durch Handlung gross zu bebildern und auszudeuten. Obwohl das Kostüm (Karen Petermann) südamerikanisch anmutet, in dem Christiane Boesiger auftritt (Borsalino, rotes Kleid, Ledermantel), und damit in die Entstehungszeit der Tango Operita zurückführt, versucht die Sängerin nicht, sich mit ihren Figuren Maria und Duende zu identifizieren. Mit einer Zurückhaltung, die schon Brecht gebilligt hätte, trägt sie die Lieder sauber vor, indem sie sie zuweilen ab einem Flugblatt, zuweilen aus einem Poesiealbum vorliest. Die gleiche Spielweise finden wir bei der Tenorstimme (alternierend Richard Bousquet und Konstantin Nazlamov). Dank diesem antinaturalistischen Konzept verschmelzen die Sänger ganz mit der Tonspur, und das Publikum kann sich ungestört dem Schmelz von Piazzollas Tango-Nuevo-Sound hingeben. Entsprechend dankbar fällt der Schlussapplaus an der Premiere aus.

 

In der vorletzten, rein instrumentalen Nummer zieht unversehens das Tempo an. Auf der engen Vorbühne beginnen die sieben Darsteller wie Ameisen emsig durcheinanderzuwuseln. Sie schleppen haufenweise schwarze Schachteln herbei, denen sie, von der Musik unerbittlich gehetzt, in Windeseile Porträtbilder, Plastikfiguren, Kreuze, Devotionalien, Girlanden und LED-Ketten entnehmen, bis die Gegenstände nebeneinanderliegen wie die Grabbeigaben auf einem argentinischen Friedhof. Mit dem letzten Takt der Nummer ist die Installation vollendet. Ruhe sanft, kleine María de Buenos Aires! Der Applaus rauscht auf. Doch halt! Die Vorstellung ist noch nicht vorbei. Es folgt ein letztes Lied. Ein Epilog? Unmöglich zu sagen. Der Schluss wird in der Erinnerung überdeckt von der zweitletzten Szene. Wenn sie die letzte gewesen wäre, hätte die Aufführung in einen Höhepunkt gemündet. So aber blieb's am Ende bloss bei "more of the same".

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