Unterwegs zwischen der Welt, Biel und Solothurn

Dieter Kaegi, Intendant der TOBS am Jurasüdfuss

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 24. August 2015.

 

 

Mit sieben oder acht Jahren stand Dieter Kaegi erstmals auf der Bühne. Als Mitglied des Kinderchors gehörte er zum "Volk" in Hans Werner Henzes Märchenoper "Il Re Cervo". Geleitet wurde die Aufführung von Armin Jordan, der als Chefdirigent von Biel-Solothurn nach Zürich gekommen war. Und Jean-Pierre Ponnelle zeichnete für die Produktion. Es war die erste Arbeit des Regiestars am Opernhaus. Später sollte der legendäre Monteverdi-Zyklus folgen, danach der ebenfalls vielbeachtete Mozart-Zyklus. Und wieder war Dieter Kaegi dabei; diesmal aber nicht mehr auf der Bühne, sondern am Regiepult, zur Rechten Jean-Pierre Ponnelles, als Assistent.

 

Auch Henze verlor sich nicht aus Kaegis Leben: Im Jahr 2010 inszenierte er, mittlerweile selbst Regisseur, für den "Maggio Musicale Fiorentino" Henzes Märchenoper "Pollicino". Die Produktion war so erfolgreich, dass sie vom Opernhaus Florenz im Februar 2015 wiederaufgenommen wurde. Da sah sie der Intendant des Teatro Regio di Torino, vormals enger Mitarbeiter des Komponisten, und bat Kaegi um eine Adaptation der Inszenierung für sein Haus. Und da wird nun die Oper, angepasst an grosse Bühnenverhältnisse, im Mai 2016 herauskommen. – Doch während Kaegi früher die Inszenierungen Ponnelles nachstellte (unter anderem eine entzückende "Cenerentola" an der Lausanner Oper), bis der Chef zu den Endproben kam und das Werk signierte, übernimmt nun ein Kaegi-Assistent die erste Strecke der Einstudierung. Denn der Herr "regista" hat nun eine andere, um nicht zu sagen: wichtigere Aufgabe - die Intendanz von Theater Orchester Biel Solothurn (TOBS).

 

So laufen die Fäden durchs Leben eines Mannes, den das Schicksal zum Theatermenschen reinsten Wassers bestimmt hat. Und er, Dieter Kaegi, nahm am Anfang das Geschehen auf der Bühne so ernst, dass er es mit der Wirklichkeit verwechselte. "Kein Wunder", erklärt der 57jährige rückblickend. "Ich war ja noch ein Kind. Wenn ich in der 'Tosca' als Messdiener auf der Bühne stand, sah ich die Zuschauer nicht. Da klaffte einfach ein schwarzes Loch. Und Tito Gobbi als Scarpia war für mich 'der böse Mann'. Wenn er unvermutet auf die Szene trat und mit seiner durchdringenden Stimme 'Un tel baccan in chiesa! Bel rispetto!' rief, während das ganze Volk in der Kirche erstarrte, machte er mir dermassen Angst, dass ich aufgewühlt nach Hause kam und bei den Eltern schlafen durfte."

 

Zwar setzte der Stimmbruch Dieter Kaegis Karriere im Kinderchor ein Ende, nicht aber seiner Arbeit im Opernhaus. Er wechselte jetzt bloss auf die Zuschauerseite und verkaufte Programme. Denn für ihn stand ausser Frage, dass das Theater zu seinem Leben gehörte - und sein Leben dem Theater. So nahm er jetzt, altersmässig eigentlich viel zu spät, Ballett­unterricht und liess sich zum Tänzer ausbilden, was nicht ganz abwegig war, wirkte doch die Mutter als Tanz- und Ballett­lehrerin. Daneben besuchte Kaegi, sozusagen ausserberuflich, die Kantonsschule, machte die Matura und nahm an der Universität das Studium von Musikwissenschaft und Anglistik auf. Und wieder schaffte er es auf die Opernhausbühne: Diesmal als Mitglied der Ballettkompanie. Als er aber anfing, Gesangsunterricht zu nehmen, sagte der Lehrer nach ein paar Stunden: "Schaffen Sie sich für das Geld lieber eine Schallplattensammlung an!"

 

Der Tagesablauf des Zwanzigjährigen gestaltete sich damit wie folgt: Vormittags Balletttraining, nachmittags Studium, und abends, wenn das Ballett nicht auftrat, Hospitanz bei Ponnelle. Das Jonglieren mit drei verschiedenen Bällen aber wurde mit der Zeit zu anstrengend. Kaegi gab Studium und Ballett auf und gewann damit Raum für eine Assistenten­karriere, der einzige Weg, der damals ins Regiefach führte. Erforderlich dafür waren Zuverlässigkeit, Ausdauer, Aufmerksamkeit, Einfühlungsgabe – und eine gesunde Mischung von künstlerischer und praktischer Tatkraft. Kaegi kam gleich bei der Elite unter: bei Harry Kupfer, Kurt Horres und Jean-Pierre Ponnelle. Und dabei lernte er: "Regie ist am wenigsten eine Technik, die sich vermitteln lässt. Die beste Regieschule nützt einem nichts, wenn man nicht mit den Leuten in der Praxis umgehen kann und mit der Produktion zeitgerecht fertig wird."

 

Hatte also der grosse Ponnelle, an dessen Seite Kaegi doch in Zürich, Paris, Bayreuth, München, New York arbeiten durfte, nichts weiterzugeben? Kaegi zuckt die Schultern: "Was sich in der Assistentenzeit lernen lässt, ist Organisation. Und da war Ponnelle ein Meister. Bewundernswert war auch, wie ernst er die Musik nahm und als Inspirationsquelle benutzte. Er zeigte auf die Partitur: 'Da, dieses Oboensolo! Warum hat es der Komponist geschrieben? Was bedeutet es?' - Wie man aber eine Sicht auf ein Werk gewinnt, wie ein Konzept entsteht, das lässt sich kaum vermitteln. Jeder Regisseur muss sich selbst definieren. Es geht nicht anders."

 

So wuchs Kaegi - "learning by doing" - im Lauf der Jahre ins Regiehandwerk hinein, ja man könnte auch sagen: in die Regiekunst. Zweihundert Inszenierungen hat er bis heute herausgebracht, an hundert Theatern. Blickt er auf das halbe Jahrhundert zurück, das er am Theater verbracht hat, findet er es erstaunlich, wie wenig sich auf dem Gebiet der Oper verändert hat, im Vergleich zur bildenden Kunst oder zur Musik. Auch im Vergleich zum Sprechtheater, wo die Hälfte der Stücke zeitgenössisch ist. Aber in der Oper? "Da hat das Publikum Mühe, Entwicklung zuzulassen. Rein der Umstand, dass zehn Werke achtzig Prozent des Repertoires ausmachen, ist einzigartig. Das gibt es in keiner andern Kunstgattung."

 

Wenn sich im Musiktheater etwas geändert hat, so ist es die Arbeit mit den Sängern. Noch vor zehn Jahren konnte einer sagen: "Während ich singe, gehe ich nicht!" Heute aber ist die Oper – "vielleicht auch dank den Regisseuren, die vom Schauspiel her kamen" – "theatralischer" (so Kaegi) und bewegter geworden. Konventionelle Regisseure werden nur noch engagiert, um das Publikum nicht zu erschrecken. Bei den Sängern aber ist ein Regisseur, der nichts verlangt, nicht mehr beliebt.

 

Bei den Proben achtet Kaegi auf die Entwicklung der Charaktere auf der Bühne. Meisterhaft hat er das in der "Tragédie de Carmen" herausgearbeitet, der ersten Regiearbeit in seiner Biel-Solothurner Intendanz. Alle Figuren - Carmen, Don José, Escamillo, Zuniga, Michaela, Lillas Pastia - wurden gezeichnet von der Geschichte, die ihre Schicksalslinien ineinander verknäuelte und zum Tod führte. "Wenn man merkt", sagt Kaegi, "dass alles zusammenhängt, stimmt eine Opernaufführung für mich." Beeindruckend, wie der Regisseur dabei Bühnenbild und Requisiten verwendete: Der Schlauch, mit dem Carmen ihre Beine abspritzt, um den gehemmten Don José aufzureizen, wird später Leutnant Zuniga erdrosseln.

 

"Mein Ziel ist" erklärt Kaegi, "die Handlung und die Beziehungen der Personen glaubhaft zu machen". Das spüren auch die Sänger, und sie ziehen mit. Deshalb kann Kaegi sagen: "Ich arbeite gern mit den Sängern, und die Sänger arbeiten gern mit mir. Das Schönste am Theater ist diese Arbeit. Und davon leite ich auch mein Kriterium für das Engagement von Regisseuren ab."

 

Dabei steht für Kaegi fest: "Extremes Regietheater, wie man es manchmal nennt, werde ich nie machen. Deshalb bekomme ich auch von Orten, wo das erwartet wird, keine Angebote. Anderseits komme ich nicht in Frage für kostümierte konzertante Aufführungen, wie sie teilweise im Mittelmeerraum noch erwartet werden."

 

Um nördlich und südlich der Alpen Erfolg zu finden, musste Kaegi "notgedrungen" einen "Zwischenweg" einschlagen: "Bei mir wird die Geschichte erzählt, und ich versuche so redlich wie möglich dem Komponisten und Librettisten zu folgen. Wenn ich aber eine Oper wie 'Norma' vor mir habe, wo die Handlung nicht trägt, kann ich das Libretto nicht naiv umsetzen. Denn der Regisseur ist nicht nur Erzähler, er ist auch Interpret. Aus diesem Grund suche ich stets nach Neuansätzen im Visuellen und Erzählerischen." Und so bietet der Name Kaegi im Programmheft "keine Garantie, dass man die Geschichte im traditionellen Sinn wiedererkennt."

 

Wie stark die Auffassungen zwischen den verschiedenen Kulturen auseinanderklaffen, zeigt sich bei den Koproduktionen, und die selbe Divergenz spiegelt sich auch im Mikrokosmos Schweiz: "Da haben wir", erklärt Kaegi, "die Achse Basel-Zürich, und wir haben die Achse Lausanne-Genf". Dazwischen aber, genau auf der Bruchlinie, befindet sich Theater Orchester Biel Solothurn (TOBS). Ein Glück für die Häuser am Jurasüdfuss, dass Kaegi von Anfang an nördlich und südlich der Alpen zu arbeiten verstand.

 

Für die Theater, die ihn engagieren, ist Kaegi ein sicherer Wert. Er steht für Ehrlichkeit im Künstlerischen und für Kompetenz im Organisatorischen. Die Theater, die reibungslose Betriebsabläufe voraussetzen, wissen: "Er wird fertig mit dem Stück. Er kann sich organisieren und ein Team zum Laufen bringen. Er kann sich an Termine halten. Er rennt nicht wegen jeder Schwierigkeit zum Direktor oder droht mit der Abreise."

 

In Dublin, Monte Carlo, Nürnberg, Posen, Nizza, Florenz, Turin, Marseille, Lodz, Bern, Prag, Kopenhagen, Lübeck, Maribor, Hongkong, Metz ist Kaegi ein Name mit Klang. Aber in Biel und Solothurn, da kennt man den Regisseur kaum. Nicht einmal für die Inszenierung von "Carmen" war er vorgesehen. Sondern angekündigt war Irina Brook, die Tochter Peter Brooks. Doch dann übertrug ihr das französische Kulturministerium kurzfristig das "Centre dramatique national Nice-Côte d'Azur", und Kaegi musste einspringen: "Wir steckten in einer finanziellen Krise. So sagte ich: 'Ich mache die Produktion ohne Gage."

 

Im Unterschied zu seinen Vorgängern am Städtebundtheater, denen aus Ersparnisgründen drei Inszenierungen pro Jahr in den Vertrag geschrieben wurden, steht Kaegi laut Vertrag bloss eine Inszenierung zu: im Ausland. Warum dort und nicht hier? "Das hilft mir, Kontakt zu halten zur internationalen Szene. Es erleichtert Koproduktionen. Es ermöglicht mir, Sänger kennenzulernen. Das ist etwas ganz anderes, als wenn man sie aufgrund eines Vorsingens engagiert. Auch hilft es dem Renommee des Hauses, wenn der Intendant eine gewisse internationale Ausstrahlung hat. Dann kommen auch internationale Journalisten und Direktoren zur Produktion."

 

"Internationale Journalisten", sagt Dieter Kaegi. Er könnte auch sagen: Hiesige Journalisten mit internationaler Blickweite, wie etwa Peter König, der Opernkritiker von "Bund" und "Bieler Tagblatt". Er war nicht nur an der Premiere, sondern auch an der Derniere der "Tragédie de Carmen" zugegen, am Samstag, den 13. Juni 2015: "Ich wollte mit meiner Frau noch eine der besten Produktionen dieser Spielzeit wiedersehen."

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