Mein Freund Harvey. Mary Chase.

Komödie.                  

Jochen Thau, Karl Weingärtner. Städtebundtheater Biel–Solothurn.

Bieler Tagblatt, 5. Januar 1985.

 

 

Böswillige Verleumdung von Spezialärzten

 

Böswillige Verleumdungen bilden die Basis des Stücks. Es kam 1944 heraus, in einer Zeit, wo es zum guten Ton gehörte, sich über die Psychiatrie und ihre Patienten lustig zu machen. Wer also gerne über Sinnesstörungen und Spezialärzte lacht, der kommt in dieser Aufführung voll auf seine Rechnung.

 

 

Als Elwood P. Dowd eines Abends durch die Strasse ging, sah er einen weissen Hasen. Er war ein Meter achtzig gross und lehnte sich an einen Laternenpfahl. "Guten Abend, Mr. Dowd", sagte der Hase. Elwood blieb stehen. Damit begann das Verhängnis. Denn der weisse Hase ist unsichtbar. Er existiert für niemanden als Elwood P. Dowd.

 

Für Schwester und Nichte ist die Schrulle des Erbonkels eine Katastrophe. Die Leute tuscheln über den wahnsinnigen Junggesellen. Seine Schwester hält's kaum mehr aus. Und die Nichte, so gut sie gebaut ist, findet keinen Bewerber. Es muss etwas geschehen.

 

Früher hätte man den Pfarrer gerufen. Der hätte mit frommen Sprüchen und bannkräftigen Flüchen den bösen Geist vertrieben: "Apage, Satanas! Teufel, weiche von dieser Seele!" In unserm Jahrhundert aber sucht man Rettung in der psychiatrischen Klinik. Nicht Weihrauch und heiliges Gerät, sondern Spritze und Schocktherapie sollen dem weissen Hasen den Garaus machen. So stellt sich Dowds Schwester die Dinge vor. In der Klinik jedoch kommt's zu einem bösen Erwachen. Weil sie von einem weissen Hasen berichtet, hält sie der Arzt für verrückt.

 

Notfallmässig wird die arme Tante in Nummer 13 geführt, ausgezogen, in die "Wanne" gesteckt. Der Klinikdirektor entschuldigt sich währenddessen bei Elwood P. Dowd, dass man ihn als Geistesgestörten behandelte. Kaum aber hat Dowd das Klinikgelände verlassen, kommt die Verwechslung ans Licht. Die Dame auf Nummer 13 muss sofort heraus. Ihr Bruder gehört in die Zelle.

 

Wo ist er? Der Klinikdirektor persönlich macht sich auf die Suche. In einer Bar findet er ihn. Er sitzt mit dem weissen Hasen am Tisch und winkt den Psychiater zu sich heran: "Nehmen Sie auch einen Drink?" Man kommt ins Reden. Der Doktor findet den weissen Hasen nett, zweifelt aber insgeheim an seinem eigenen Verstand: Hat's mich jetzt erwischt? Bin ich übergeschnappt? Verzweifelt bemüht sich der Psychiater, seine fünf Sinne zusammenzuhalten.

 

Elwood P. Dowd aber geht's an den Kragen. Man hat ihn in die Klinik gebracht, und nun bekommt er die berühmte Spritze Nummer 997. Damit er von seinen Wahnvorstellungen geheilt wird.

 

Währenddessen erzählt der Taxichauffeur im Wartezimmer, was mit dem Patienten geschehen wird: "Sie werden ihn nicht mehr wiedererkennen, Madam. Bis jetzt war er nett, verständnisvoll, harmlos. Aber nach der Behandlung wird er berechnend, kalt, böse, wie alle normalen Leute." Von Reue gepackt, springt die Schwester zur Tür des Behandlungszimmers und rettet ihren Bruder in letzter Sekunde vor der verhängnisvollen Therapie.

 

Ich habe das Stück mit Absicht so ausführlich nacherzählt, damit seine Schwächen greifbar werden: Die Handlung hat kein Ziel und keine Spannung. Wer die Vorabendserien des Fernsehens kennt, der kann im voraus sagen, wie sich die Geschichte entwickelt. Der Unterhaltungswert unserer "Komödie" ist also gering. Ausserdem mangelt es an jenen ruhigen, nachdenklichen Momenten, die das Lustspiel von Rang ausmachen.

 

Was also bleibt? Ein Stück, das die Psychiater verunglimpft und selber nichts von Psychologie versteht. Denn statt Profil und Charakter gibt es seinen Figuren bloss einen Knacks. Die Personenführung mithin ist stümperhaft.

 

"Mein Freund Harvey", dieses Machwerk von Mary Chase, hat das Städtebundtheater mit gewohnter Sorgfalt inszeniert. Unter der Regie von Jochen Thau haben alle Darsteller einen präzisen Stil entwickelt, und sie servieren ihre Pointen mit herzlicher Einsatzfreude. Karl Weingärtner schuf – wie immer – ein hervorragendes, pfiffiges Bühnenbild. Schade nur, dass die Theaterleute ihr Talent und ihre Kraft nicht an einem würdigeren Stück entwickeln konnten.

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