Tristan und Isolde. Richard Wagner.

Oper.

Horst Stein, François Rochaix, Jean Philippe Roy. Grand Théâtre de Genève.

Radio DRS-2, Reflexe, 31. Januar 1985.

 

 

Sie reicht den Becher mit dem Sühnetrunk, und er entreisst ihr die Trinkschale: "Wohl kenne ich Irlands Königin / Und ihrer Künste Wunderkraft. Vergessens gütiger Trank, / Dich trink ich sonder Wank!" Er setzt an und trinkt. Isolde: "Betrug auch hier? Mein die Hälfte!" Sie entwindet ihm den Becher. "Verräter! Ich trink sie dir!" Sie trinkt. Dann wirft sie die Schale fort.

 

(Musik)

 

Schauern ergreift sie. Sie fassen sich krampfhaft ans Herz und führen die Hand wieder an die Stirn. Dann suchen sie sich wieder mit dem Blick, senken ihn verwirrt und heften ihn wieder mit Sehnsucht aufeinander. Der Todestrotz weicht der Liebesglut.

 

(Musik)

 

So hat Wagner den Höhepunkt des ersten Akts beschrieben. Und so, genau so spielt er sich auch in Genf ab, auf der Riesenbühne des Grand Théâtre, die an Höhe, Breite und Tiefe Mailand, New York, Hamburg und Wien weit hinter sich lässt. Und nun verwandelt sich, durch die Lichtführung von Jean Philippe Roy, die Bühne unmerklich in graue Unendlichkeit. Das Schiff ist versunken, der Raum vergessen. Und nur zwei Menschen sind da, Tristan und Isolde. Es sind nicht mehr Sänger im Scheinwerferkegel, sondern zwei Seelen, die von innen her leuchten. Vom Liebestrank zernagt und zu Tod verwundet.

 

(Musik)

 

François Rochaix, der Regisseur, hat diese Verwandlung von Todestrotz in Liebesglut mit unendlich subtilen, schmerzhaft langsamen Bewegungen spiele lassen. Er betrieb mit seiner Inszenierung szenische Minimal Art, die der Musik überlässt, was zu sagen ist, weil sie verstanden hat, was die Oper "Tristan" eigentlich ist: eine ausgetüftelte Differentialgleichung fünften Grades, eine Differentialgleichung der Musik und der Gefühle.

 

In diesem Sinn hat Horst Stein das Orchestre de la Suisse Romande auch geleitet. Nicht stumpfer Sinnenrausch, sondern mikromechanische Präzisionsarbeit, mit subtilsten Abstufungen, die man mit dem Rechenschieber nachprüfen kann. Ein Meisterwerk luzider Stabführung. Unter diesem Dirigenten spielte das Orchestre de la Suisse Romande, wie eben nur das Orchestre de la Suisse Romande spielen kann: präzis und doch locker, gelassen und doch beseelt.

 

Als Isolde sah man, hörte man - nein: genoss man Janis Martin. Wieder einmal ein Rollendebut, das voll überzeugte. Und wieder einmal wird das Flair des Generaldirektors Hugues Gall unter Beweis gestellt, Sänger im richtigen Moment ihrer Entwicklung auf neue Rollen anzusetzen.

 

Darum herum ein Ensemble von absolut erstklassigen Sängern: Helga Schwarz als Brangäne, voll, warm, anrührend, Hans Tschammer als Marke menschlich, nobel, aufrecht.

 

Eigentlich hätte auch Tristan ein Rollendebut geben sollen. Aber Jan Blinkhof erkrankte, und Spas Wenkoff sprang vier Stunden vor der Premiere ein. Dass er noch nicht ganz integriert war, weder musikalisch noch darstellerisch, spricht für die Qualität der Aufführung. In Genf ist mit der Diamantenfeile gearbeitet worden, und dieser Schliff lässt sich nicht in vier Stunden holen.

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