Il Ritorno di Casanova. Girolamo Arrigo.

Oper.

Grand Théâtre de Genève.

Radio DRS-2, Reflexe, und Sender Freies Berlin, 22. April 1985.

 

 

Auf der Heimfahrt nach Venedig hat der 53jährige Casanova ein letztes Abenteuer. Er erzwingt den Beischlaf mit einer jungen Frau, die ihn verabscheut. Weil sein alter Leib sie ekelt. Und weil sie einen Leutnant liebt. Schön wie ein Gott. "Nur eine Sekunde lang", liest man in Arthur Schnitzlers Novelle, "nur eine Sekunde lang überlegte Casanova, an wen ihn Lorenzi erinnerte. Dann wusste er, dass es sein eigenes Bild war, das ihm, um dreissig Jahre verjüngt, hier entgegentrat." Um bei der schönen Marcolina zu liegen, muss sich Casanova verhüllen. Im Mantel des Leutnants dringt er zu ihr ins Zimmer, und im Mantel der Nacht liebt er sie. Sobald aber der Tag anbricht und sie ihn im Licht erkennt, wendet sie sich mit Grausen ab. - Er vernahm das Wort, schreibt Schnitzler, "das ihm von allen das furchtbarste war, da es sein endgültiges Urteil sprach: Alter Mann." Marcolina hat nicht Casanova geliebt, als er bei ihr lag, sondern den andern. Er aber, dieser Scharlatan mit falschem Adelstitel, er wurde überhaupt nie um seinetwillen geliebt. Das ist die Tragödie seines Lebens, die ihm jetzt, im letzten Abenteuer, aufgeht und die seine ganze Vergangenheit als leeren Pfusch offenbart. Wenn "Casanovas Heimfahrt" kein Meisterwerk wurde, so liegt das nicht an der Erfindung, sondern am Stil der Novelle. Sie hat den "haut goût" des Literarischen, wie er bei vielen ambitiösen, aber doch nicht genialen Romanciers des 19. Jahrhunderts anzutreffen ist. Fürs Musiktheater aber ist "Il Ritorno di Casanova" ein Fund. Denn durch die Dramatisierung fiel alles Romanhafte weg. Und es entstand eine Oper mit Sinn und Hintersinn; eine Oper, die Gemüt und Ahnungsvermögen fesselt, aber auch die Reflexion in Gang setzt. Ein Fund eben. Giuseppe Di Leva ist der Autor des Textbuchs. Und Girolamo Arrigo hat die Musik geschrieben.

 

(Musik)

 

In der einzigen gesprochenen Stelle hören wir den Boten Venedigs. Er verkörpert die Prosa der Verhältnisse, die Kälte der Politik. Im Orchester: ein stehender Akkord; dazu eine monotone Auf- und Ab-Bewegung. Beide sind die Negation des Wechsels und bedeuten Tod statt Leben. Casanova wird in Venedig zur Ruhe kommen. Aber zur Ruhe der Stagnation. Die Musik ist also illustrativ, und sie ist transparent. Nie deckt sie die Stimmen zu.

 

(Musik)

 

Wir sind im Kloster. "Gloria in excelsis deo", singen die Nonnen im Hintergrund. Im Vordergrund aber knistert die erotische Spannung. Amalia, die ehemalige Geliebte, erzählt ihren Traum: Sie sah Casanova in einer Art Apotheose höher und höher steigen. Dazu intonieren die Bläser ein Tanzmotiv. In den Kirchengesang der Nonnen mischt sich das Motiv der Vulgarität, des niederen sexuellen Drangs. Blasphemie durch Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren.

 

Im Ganzen gesehen ist die Komposition von Girolamo Arrigo farbig, überlegt und effektsicher. Sie wird ohne Zweifel ihren Weg über die grossen Opernbühnen nehmen, vor allem nach diesem Start im Grand Théâtre. Man war nach Genf gefahren, um eine musikalische Uraufführung zu hören. Und zu sehen war stattdessen ein vollkommenes Gesamtkunstwerk, in dem Musik, Beleuchtung, Bühnenbild, Kostüm, Gesang und Darstellung zur höheren szenischen Einheit verschmolzen. Mit dieser Aufführung hat das Genfer Grand Théâtre einmal mehr bewiesen, dass es zu den führenden Opernhäusern Europas zu zählen ist.

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