Der gute Mensch von Sezuan. Bertolt Brecht.

Schauspiel.

Klaus-Dieter Wilke. Gastspiel des Theaters für den Vorarlberg im Stadttheater Biel.

Bieler Tagblatt, 27. November 1971.

 

 

Wie spielt man Brecht? Diese Frage, die noch vor zehn Jahren sehr genau hätte beantwortet werden können, beginnt heute viele der fähigsten Theaterleute zu beschäftigen. Unsere Brecht-Auffassung ist problematisch geworden, die unzähligen Schriften, in denen Brecht selbst vorschrieb, wie er seine Stücke gespielt haben wollte, bieten keinen Rückhalt mehr. Allzulange haben seine Anhänger und Epigonen die Prinzipien des "epischen Theaters" bedenkenlos angewendet, die Schriften sind zum Kanon erstarrt, der neue Interpretationen von vornherein ausschliesst und die "dialektische Dramatik" in einer ausgefahrenen Schematik verewigt. Entscheidet sich ein Regisseur für ein Brecht-Stück, dann ist ihm die ganze übrige Arbeit bereits abgenommen; es gibt nur einen Weg, und der ist ganz genau vorgeschrieben. Für schöpferische Theaterleute wurde diese Zwangsjacke zum Albtraum, und heute versuchen sie immer bewusster, die altgewohnten Vorstellungen zu überprüfen.

 

Diese Fragen jedoch, die immer drängender werden, scheinen das "Theater für den Vorarlberg", das am Dienstagabend im Stadttheater zu Gast war, kaum zu bewegen; die Inszenierung stellte vertrauensvoll auf die gängigen Anschauungen ab. Die Sucht nach Originalität hat sie noch nicht gepackt, und deshalb ging auch nur weniges grundsätzlich daneben. Die Aufführung zeugte von bravem Handwerk, unberührt von der neumodischen Unrast, merkwürdig unbekümmert aber auch gegenüber der Kunst, die für Brecht essentiell ist.

 

Er schreibt: "Wir können unsere Darstellungen des menschlichen Zusammenlebens nicht ohne Kunst zustande bringen. Wir benötigen diese freien, schöpferischen, phantasievollen Fähigkeiten, dieses Verdichten, Leichtmachen, Den-Kern-Treffen."

 

Das Vorarlberger Ensemble hat dort Halt gemacht, wo die eigentliche Arbeit einsetzen sollte; mit dem Festlegen der Gänge und dem aufwendigen Kostümieren ist es bei derart diffizilen Stücken nicht getan.

 

Der Regisseur Klaus-Dieter Wilke kennt sich im Metier aus, er zeigte sich mit den Gegebenheiten kleiner Bühnen vertraut und nutzte ihre beschränkte Spielfläche mittels eines vielfältig verwendbaren Bühnenbildes recht gut aus. Das notorische Übel kleiner Theater jedoch, den Mangel an profilierten Schauspielern, konnte seine Inszenierung nicht verdecken.

 

So werden die grossen Rollen einfach unter den Besten verteilt, ohne dass allzu viel Rücksicht auf die speziellen Anforderungen jeder Bühnenfigur genommen werden kann. In diesem Zusammenhang muss der gewiss talentierte Malte Horstmann erwähnt werden, der zwar über eine tragende, volle Stimme verfügt und stets präsent war, so dass keine seiner Gesten unbedacht wirkte, der aber als Wasserverkäufer Wang enttäuschte, da er, allein schon auf Grund seiner Jugend, jene Mischung von Gewinnsucht und Ehrlichkeit nicht wiederzugeben vermochte, eine Gespaltenheit, die von Brecht mit voller Absicht in diese Figur gelegt worden ist.

 

Marianne Kamm spielte die Doppelrolle der Shen Te und des Shui Ta und übernahm damit die sehr schwere Aufgabe, schaubar zu machen, wie ein Mensch nicht gut sein und zugleich leben kann, sondern dass eins das andere ausschliesst. Shen Te muss ihre Güte immer häufiger mit der Maske des gestrengen und geschäftstüchtigen Shui Ta überdecken, um in einer Welt voller Bedürftiger nicht zu erfrieren, weil sie selbst ihre Wärme verschenkt. "Wo ich bin, kann er nicht sein", lautet die Weisheit des Stücks, ich kann nicht lieben und zugleich behalten, eine uralte Paradoxie. In der Darstellung dieses grundsätzlichen Widerspruchs bliebt die Inszenierung stark an der Oberfläche verhaftet und muss als unbedeutend qualifiziert werden.

 

Die Parabel wurde gedankenlos aus dem chinesischen Milieu herausgerissen und nach Süddeutschland verpflanzt, lediglich die Namen blieben chinesisch. Damit engte Wilke die allgemein gültigen menschlichen Verhältnisse ein und ersetzte sie durch naive, klischierte Vorstellungen über Politik. Gerade diese aber wollte Brecht der gedanklichen Auseinandersetzung der Zuschauer preisgeben: in der Aufführung waren sie nicht fremd genug, um einem unheimlich nahe zu sein, sie berührten einen nicht und waren somit kein Anstoss zum Denken.

 

Shui Ta war nun der Managertyp mit Sonnenbrille und lauter Stimme, Shen Te die Frau im roten Kleid mit der warmen Stimme, die beiden Figuren standen beziehungslos nebeneinander, statt miteinander durch jene unglückliche Bedingung verknüpft zu sein, Gutes zu tun und dabei doch zu leben. Im Spiel Marianne Kamms wurde der Widerspruch aber nicht zerreissend und unerträglich, weil sie ihn zu wenig als solchen darzustellen verstand. Shen Te/Shui Ta sind nicht zwei Hälften eines gefällten Baums, grob gehauen und jede für sich, sondern zwei Hälften eines lebendigen Menschen, also unendlich beziehungsreich. Der Darstellerin bereiteten zudem die Übergänge zwischen dem Anreden des Publikums und dem Vorspielen auf der Bühne, der V-Effekt, Mühe, ihr Spiel war nicht von jener Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, die den Grundgestus des Zeigens rechtfertigt und zugleich voraussetzt. Bei ihr schien er erzwungen und wurde damit auf die Dauer langweilig

 

Die meisten Darsteller hatten die Tendenz zum Schmieren. Das war besonders dann unerträglich, wenn der Text herhalten musste, wie dies am Ende des Stücks geschah, wo Shen Te, statt das eine Wort "Hilfe!" zu rufen, in einen Wortschwall ausbrach, der erst durch den fallenden Vorhang abgestellt wurde. Das war vom Text her nicht zu begründen und wirkte peinlich.

 

Schade war auch, wie verschwommen und fahrig die Schauspieler, von einer löblichen Ausnahme abgesehen, ihre Figuren darstellten. Damit verlor das Stück wesentliches, denn gerade die "Darstellung des menschlichen Zusammenlebens" bildet den gewichtigen Hintergrund des Stückes, der hier wie durch Dunst nur noch hie und da hervorschimmerte. Diese seltenen Momente waren Charlotte Renner zu verdanken, die die Gestalt der geschwätzigen und habgierigen Witwe Shin präzise umriss. Da wurde ein Menschenbild gezeigt, das sich durch klare Konturen auszeichnete und den Zuschauern Stoff zur Auseinandersetzung bot.

 

Wenn sich nun die Frage stellt, ob die vereinzelten starken Momente die Längen der Aufführung aufwogen, ob die solide Mittelmässigkeit die fehlende szenische Differenzierung und Musikalität nicht schmerzhaft vermissen liess, kurz, wenn sich die Frage nach der Notwendigkeit dieses Gastspiels erhebt, dann wird sich im Grunde genommen der weite Abstecher von Bregenz nach Biel doch wohl kaum rechtfertigen lassen.

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