Don Carlos. Friedrich Schiller.

Schauspiel.

Otto H. Allemann. Gastspiel des Stadttheaters Solothurn.

Bieler Tagblatt, 10. November 1971.

 

 

Qualität einer ersten Hauptprobe

 

Ein nicht ganz unberechtigtes Misstrauen gegenüber Klassikeraufführungen kann heutzutage weitherum festgestellt werden, das Klassische ist uns fremd geworden. Wir ziehen ihm das Spezielle, Rätselhafte und Psychologische vor, denn angesichts unserer Ohnmacht und Unwissenheit erscheint uns der Drang des Klassikers nach Übersicht suspekt. Wie kann er sich vermessen, seinen Stoff zu beherrschen und zu bewältigen, unsern Gefühlen die Richtung zu weisen und "unseren Empfindungsstand" zu bestimmen? Harold Pinter, ein zeitgenössischer Dichter, warnt vor dem Klassiker: "Hütet euch vor dem Autor, der euch sein Anliegen aufzudrängen sucht und keinen Zweifel über seine Nützlichkeit aufkommen lässt." Und trotzdem müssen uns Schillers Dramen interessieren.

 

Was nämlich in ihnen packt, ist nicht nur das – trotz Pinters Warnung – rührende Anliegen, Menschlichkeit zu erstreben. Es ist nicht nur das politisch wieder, immer wieder aktuelle Thema, jeglichen Despotismus zu bekämpfen, und es ist auch nicht allein die nachprüfbare dramatische Qualität. Unsere Ergriffenheit bei "Don Carlos" entspringt dem, wofür Kunst seit jeher gemacht worden ist: der Darstellung unseres Menschseins. Dass unser Dasein und die damit verknüpften Bedingungen zur Sprache gebracht und sinnlich fassbar werden, das ist es, was uns bezaubert, denn es ermöglicht die Reflexion und vertieft die Erkenntnis unserer selbst.

 

Einer der schönsten und aufschlussreichsten Dialoge des Schauspiels findet sich im Gespräch der beiden Protagonisten, dem spanischen König Philipp und dem Marquis von Posa, wo der König, verstrickt in Politik, das Eigentliche nicht mehr zu sehen vermag und es durch Posa neu erfahren möchte. In diesem Dialog stossen Erfahrung und Pragmatismus mit der Sprengkraft und Weite des Ideals zusammen, zwei Gegensätze, die von jedermann erlebt werden und verarbeitet werden müssen. Faszinierend und ergreifend ist nun, wie sich die Gegensätze nähern, durchdringen und doch nicht auflösen, sondern vielmehr zur Entscheidung zwingen. Und eben dieses Zusammenkommen von Idealismus und Räson, Enge und Weite, Intrige und Ehrlichkeit bestimmt, unendlich vielschichtig, den gesamten Verlauf des Dramas.

 

Ein Stück von solcher Komplexität verlangt intelligente Schauspieler und minuziöse Probenarbeit, denn es gilt, den verschiedenen Ebenen Rechnung zu tragen und sie schaubar zu machen. Die Übergänge müssen behutsam und folgerichtig angelegt werden, um die zahlreichen Verflechtungen von Wahrheit und Lüge, Natur und Künstlichkeit nicht zu zerreissen, die die Eigenart des Schauspiels ausmachen. Da Schiller die Psychologie der Figuren nicht festlegte, um die Allgemeingültigkeit nicht einzuschränken, muss der Charakter der Personen vom Schauspieler selbst im richtigen Mass vom Text her erarbeitet werden, eine höchst anspruchsvolle Aufgabe.

 

Die Solothurner Aufführung unter der Leitung Otto H. Allemanns nun versetzte jedem Kenner des Werks eine Ohrfeige und hinterliess Empörung und Wut, bei unvorbereiteten Zuschauer Ratlosigkeit und Langeweile.

 

Die Ursachen des jämmerlichen Eindrucks, den die Inszenierung hervorrief, sind mannigfaltig und in ihrem Zusammenwirken verheerend. Da muss, neben eklatanten Fehlbesetzungen und überforderten Akteuren, vor allem von den ungeschickten Streichungen berichtet werden, die von der wunderbaren Vielschichtigkeit des Stücks nur noch eine unverständliche Kolportage übrigliessen, unverständlich, weil wichtige Voraussetzungen dem Rotstift des Regisseurs anheimgefallen waren. Etwa die Hälfte des Texts und elf (!) Personen wurden ausgelassen, und so standen die von Schiller meisterhaft vorbereiteten Höhepunkte beziehungslos nebeneinander und verloren Wirkung und Gewicht.

 

Diese Vorwürfe wiegen schwer, doch leider sind sie nicht die einzigen, die erhoben werden müssen. Ebenso schlimm ist wohl, dass Allemann die Musikalität der Vorlage verkannte. Die Schauspieler schnurrten Schillers Verse herunter, ohne sie selber zu verstehen und damit dem Zuschauer verständlich zu machen, von Wohlklang und rhythmischer Gliederung schienen sie keine Ahnung zu haben.

 

Die mangelnde szenische Phantasie des Regisseurs und die dürftigen Mittel der Schauspieler schlugen sich in automatenhaften Gängen, spannungslosen Dialogen und einer widerwärtig oberflächlichen Symbolik nieder. Die Aufführung war von der Qualität einer ersten Hauptprobe; die technischen Pannen brauchen nur am Rand erwähnt zu werden, viel bedauerlicher ist, dass die Solothurner Auseinandersetzung mit dem Reichtum der Vorlage zu keinem fruchtbaren Ergebnis geführt hat und auf diesem Wege ganz offensichtlich auch nie führen wird.

 

Vom Vorhaben, diese Inszenierung mit unseren Schulen zu besuchen, muss sehr ernsthaft und dringend abgeraten werden, aus Liebe zu "Don Carlos" und aus Liebe zum Theater.

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