Umsonst. Johann Nepomuk Nestroy.

Posse.

Bruno Felix. Austauschgastspiel des Theaters für den Vorarlberg am Städtebundtheater Biel–Solothurn.

Bieler Tagblatt, 20. Februar 1978.

 

 

Gönnt Nestroy eine Atempause!

 

Von sich selber sagte er: "Ich seh' einem lustigen Kerl gleich, aber das is alles nur auswendig, inwendig schaut's famos aus bei mir. Wie ich trink, glaub' ich, a jeder Tropfen is Gift – wie ich iss, so isst der Tod mit mir – wenn ich spring und tanz, so is mir inwendig, als wenn ich mit meiner Leich' ging – wie ich ein' Kameraden seh', der nix hat, so gib ich ihm gleich alles, obwohl ich selbst nix hab', und das bloss, weil ich in Gedanken alleweil mein Testament mach'."

 

Er ging mit Unsicherheit, ja abgrundtiefem Misstrauen durchs Leben: "Ich glaube von jedem Menschen das Schlechteste, selbst von mir, und ich habe mich noch selten getäuscht."

 

Der Direktor des Carl-Theaters charakterisierte ihn mit den Worten: "Nestroy ist erst Nestroy, wenn er die Feder ergreift oder aus den Kulissen tritt, ansonst ist er – ein armes Hascherl!"

 

Und dieser "unbeholfene, schüchterne und einsilbige Mann" schrieb an die achtzig Theaterstücke, die zum Lustigsten, Geistreichsten und Pointiertesten gehören, das je in deutscher Sprache verfasst wurde...

 

Wie kann, genauer: wie soll man ihn spielen?

 

Man kann sich, wie es das Theater für den Vorarlberg an seine Gastspiel tat, an die Oberfläche halten. Dann wird zur Geltung kommen, wie meisterhaft und dicht die Komödien Nestroys gebaut sind. Die beinahe vergessene Posse "Umsonst", die die Truppe ausgegraben hat, erweist sich dann als echte Trouvaille. Keine Sekunde lassen die Spannung und das Vergnügen nach. Szene für Szene wird die Handlung verwickelter, und der Knoten, den Nestroy vor den verblüfften Zuschauern knüpft, wächst ins Gigantische, bis er am Schluss in einem brillanten Feuerwerk gelöst wird, aus dem zwei Paare, verbunden fürs Leben, hervorgehen.

 

Die 15 Schauspieler aus Bregenz haben sich unter der Regie von Bruno Felix an das Robuste der Posse gehalten und unter Beweis gestellt, dass man Nestroy nie umsonst aufführt. Seine unverwüstliche Komik sprang mühelos über die Rampe und gewährte den schätzungsweise 25 Premierengästen beste Unterhaltung. (Im Vorbeigehen sei das erstaunliche Faktum vermerkt, dass sich das Ganze in Bühnenbildern abspielt, die die Bühne unseres Stadttheaters doppelt so gross erscheinen lassen, als sie in Wirklichkeit ist.) – Ohne Zweifel, so kann man Nestroy spielen. Aber darf man dabei Halt machen?

 

Nestroy ist mehr als sein französisches Pendant Georges Feydeau, der sich selbst als Handwerker, als eine Art Apotheker verstand: "Ein Gramm Verwicklung, ein Gramm Pikanterie, ein Gramm Beobachtung. Vielleicht klingt es nicht zu eingebildet, wenn ich sage, dass ich die Wirkung meines Mittels ziemlich genau vorausberechnen kann."

 

Nestroy dagegen ist ein Genie, und seine Stücke sind mehr als blosse Maschinerien, bei denen die falsche Tür im richtigen Moment aufgeht. Selbst durch seine schneidensten Satiren geht ein geheimer Zug von Trauer und Nachsicht, wie auch umgekehrt seine ernsthaften Äusserungen eine fein, oft kaum merkliche Linie von Spott und Ironie zeigen. Es ist jener Spott, der den wahren Künstler nie verlässt, jene tiefe Überzeugung, dass nichts wert sei, wirklich ernstgenommen zu werden. Und gerade in "Umsonst", wo er sich und seinesgleichen, die Schauspieler und die Welt des Theaters, mit den köstlichsten, urkomischsten Einfällen blossstellt, zeigt sich, dass ihm das Leben als Spiel gilt. Er sucht die Spielregeln zu ergründen, mehr nicht.

 

Aber lässt sich das auf einer Bühne zeigen? Dazu brauchte es Schauspieler, die die Kraft ihres Komödiantentums aus ihrer Verzweiflung ziehen, und es brauchte Regisseure, die nicht bloss die Auftritte regeln, sondern der Kunst mit Leib und Seele verfallen sind. Schier Unmögliches also wäre von den Theaterleuten zu verlangen, wenn nichts von Nestroy verlorengehen sollte.

 

Aus diesem Grund hat einer, der es wissen muss, der gebürtige Wiener und ehemalige Burgtheaterdirektor Gerhard Klingenberg bei der Neueröffnung des Zürcher Schauspielhauses erklärt, Nestroy brauche eine Atempause. "Eine gewisse Veränderung eines allzu unverbindlichen Nestroy-Bildes scheint wünschenswert."

 

Nach alledem sollte verständlich sein, warum die Frage, ob sich der Besuch des Vorarlberger Gastspiels lohnt, nicht eindeutig beantwortet werden kann. Wer unbeschwerte Unterhaltung sucht und nicht allzu kritische Massstäbe an die schauspielerischen Leistungen legt, wird auf seine Kosten kommen und von Nestroys Einfallsreichtum mit Sicherheit beschenkt werden. Wer aber vom Theater erwartet, es solle Spiegel unserer Welt sein und gerade in der Verzerrung der Karikatur die wahren Verhältnisse aufdecken, der gönne sich eine Atempause.

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