The Crazy Night Girls.

Transvestitenshow.

Gastspiel im Theater am Käfigturm, Bern.

Der Bund, 15. Dezember 1978.

 

 

Wäre der Zuschauerraum nicht beinahe leer gewesen, dann hätte die Kritik barscher ausfallen müssen. Das Improvisationstalent und die Körperbeherrschungen liessen keine Wünsche offen, und was die Schminkkunst angeht, standen die "Crazy Night Girls" aus München über dem Durchschnitt der meisten Transvestitentruppen. Auch in den Live-Szenen, die meist enttäuschend ausfallen, gelang es ihnen, Überdurchschnittliches zu leisten. Einfallsarm und unoriginell waren jedoch die Zwischentexte, die mit den üblichen Night-Club-Witzen bestritten wurden. Auch bei der Choreographie fehlten Raffinement und Phantasie; mit kokettem Hüftenwackeln, Arm- und Beineschlenkern ist es nicht getan.

 

Aber das Theater war, an der Premiere zumindest, sehr, sehr schwach besetzt. Es genügte daher nicht, sich zurückzulehnen und zu schauen, was die beiden auf der Bühne boten, um mitgerissen zu werden. Sondern man fühlte sich als Zuschauer irgendwie verpflichtet, Gordy Blanche und Mary Morgan über die Enttäuschung des leeren Hauses hinwegzuhelfen, indem man, so gut es ging, mitmachte. Und das hatte zur Folge, dass sich mit der Zeit etwas wie Solidarität und Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelte. Denn am Ende der Vorstellung kannte jeder jeden. Und das gab der Show einen besonderen Reiz.

 

Und hätte es die letzte Szene nicht gegeben, dann wäre man nach Hause gegangen, ohne dem Abend noch irgendwie in Gedanken nachzuhängen. Nun aber bleibt ein Eindruck zurück, den man so leicht nicht los wird. Einen ganzen Abend lang hatten die beiden Verwandlungs- und Imitationskünstler die Macht der Schminke vorgeführt – und das bedeutet: die Macht von Täuschung und Lüge. Doch "jetzt wollen wir ehrlich sein und zeigen, wer wir sind".

 

Da stand ein junger Mann auf der Bühne, wie du und ich, und während er sang, begann daneben die schlanke, aufreizende Diva den Flitterschmuck abzulegen, sie riss sich Brauen und Wimpern aus dem Gesicht, dann die herrlich rotlackierten Fingernägel, einen um den andern, das hautenge Kleid glitt zu Boden, man erkannte einen nackten männlichen Oberkörper in Blue Jeans. Sie, nein, er rieb sich die Schminke ab und löste die Perücke vom Kopf. Man blickte auf die Gesichter von zwei jungen Männern, die so echt, so menschlich waren, dass es schien, als habe man nur deshalb einer zweieinhalbstündigen Transvestitenshow beigewohnt, um sich die Frage vorlegen zu lassen: Wer bin ich?

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt 0