Das blaue Gesetz. Maja Beutler.

Schauspiel.

Federico Pfaffen, Karl Weingärtner. Städtebundtheater Biel–Solothurn.

Bieler Tagblatt, 19. März 1979.

 

 

Uraufführung im Stadttheater:

Teilweises Gelingen

 

In der Knappheit, die Maja Beutler für ihr Stück charakteristisch findet, liegt zugleich seine Schwäche. Denn im "Blauen Gesetz" wird nicht mit minimalem Aufwand ein Maximum an Aussagekraft erzielt. Sondern unter "Knappheit" versteht die Autorin die Vielzahl der Andeutungen, die in ihr Erstlingswerk hineinverwoben worden sind. Aber eben, Andeutungen sind bloss Möglichkeiten. Sie stossen die Türen nur auf, wo es doch darum ginge, einen Weg zurückzulegen.

 

Einen Weg zurücklegen, das heisst: erzählen. Eine Liebesgeschichte etwa, zwischen einem achtzehnjährigen Jungen und einem dreizehnjährigen Mädchen. Wo das Mädchen treu ist, einen Beruf ergreift, wartet, dass die Zeit vergeht und der Freund zurückkommt; wo der Junge als Konzertpianist im Ausland Karriere macht und dabei die Jugendliebe vom Stadtpark vergisst.

 

Ein anderer Weg könnte sein: der Bericht über zwei Menschen, die aus ihrer gewohnten Welt gerissen und ins Altersheim gesteckt werden. Und daran liesse sich darstellen, wie der Prozess von sich geht, den man mit "Verfall der Persönlichkeit" zusammenfassen könnte. – Zu erzählen schliesslich wären auch, das wissen wir seit Brecht, so abstrakte Dinge wie Machtkonzentration, Kunst als politische Herausforderung, das Janusgesicht der Wissenschaft, der Tod.

 

All dies Aufgezählte nun enthält "Das blaue Gesetz" – aber nur in der Möglichkeitsform. Und dadurch wirkt es unfertig und, in letzter Konsequenz, unverpflichtend. Denn es liegt in der Natur der Sache, dass alles zusammen in einer knapp zweistündigen Aufführung nicht zum Tragen kommen kann. Um der Deutlichkeit und Eindringlichkeit willen hätte sich Maja Beutler also zwischen den verschiedenen Möglichkeiten entscheiden müssen.

 

So aber liegt das Stück auch stilistisch in einem eigentümlichen Schwebezustand. Es ist nicht auszumachen, ob die Figuren als Karikaturen, als Exempel oder realistisch genommen sein wollen, denn ihre Zeichnung ändert sich von Szene zu Szene. Mal verkörpern sie schwammige Ideen, und dann wiederum zeigt sich an ihnen scharf Beobachtetes.

 

Ähnliches gilt für die Sprache. In den Sätzen, die die Mutter im dritten Bild spricht, gelingt es Maja Beutler, einem Innenleben und einer Lebenssituation konzis Ausdruck zu geben. Doch diese Ebene wurde nicht durchgehalten, sondern daneben gibt es Sätze, die dieses innige Verhältnis zum Sprechenden nicht aufweisen. Sie haben sich von der Person abgelöst und dienen äusseren Zwecken, zur Verdeutlichung etwa, oder um die Handlung vorwärts zu bringen, oder um die Absicht der Autorin durchtönen zu lassen.

 

Dieses Absichtsvolle ist es denn auch, das die meisten Schwierigkeiten bringt. Wie nämlich soll solches dargestellt werden wie: "eine Stadt plant und organisiert die perfekte 'Versorgung' ihrer Alten" oder: "eine ausgeklügelte Organisation sorgt für das Funktionieren des Apparats"? Das Ideenmässige, das dem Stück zugrundeliegt, schwächt mithin die dramatische Substanz.

 

Denn auf dem Theater hat nur die Darstellung anhand des Besonderen Evidenz. Im "Blauen Gesetz" aber hindert der Hang zum Allgemeinen die Autorin daran, die Ausformung des Konkreten so weit zu treiben, dass es bühnenwirksam und verpflichtend wirkt.

 

Mit diesen Schwierigkeiten versuchte Federico Pfaffens Regie fertig zu werden, indem sie die fehlende Körperlichkeit des Stücks mit Theatralik ersetzte. Eines der Mittel bestand darin, Stimmung aufzubauen, wo immer die Vorlage es zuliess. Am eindrücklichsten gelang dies vielleicht am Anfang. In einem hervorragend suggestiven Bühnenbild von Karl Weingärtner kehrte der alte Gärtner (Michael Ogilvie) das rote Laub unter kahlen Bäumchen zusammen, während im Hintergrund links ein duftig weiss gekleidetes Mädchen (Eleonore Bürcher) auf einer Kinderschaukel hin- und herschwang. Und gleichzeitig war aus der Kulisse rechts der übende Klavierspieler zu hören.

 

Ein anderes Mittel bildete der Effekt. Pfaffen liess nicht nur auf der Bühne spielen, sondern führte die Schauspieler auch auf den Balkon, durch den Zuschauerraum, ins Treppenhaus. Er gestattete die Überzeichnung: Hilfsschwestern, die sich schubsen und aneinanderstossen wie eine chaplineske Kellnerbrigade; die Maschinerie der "Preziosa", wo die zum Sterben Ausgelosten unter feierlichen Klängen in den Sarg befördert werden. Damit kam unzweifelhaft Bewegung und Abwechslung auf die Bühne. Und doch, mit der Zeit wurde unverkennbar, dass all das Theatermässige eine äusserst schmale Basis hatte. Die Effekte, die Pfaffen zu setzen wusste, waren eben nicht mehr als Effekte – also Wirkungen ohne hinreichende Ursache.

 

Unter solchen Bedingungen war den Schauspielern das Gelingen nur teilweise möglich. Denn auch sie standen gegenüber ihrer Rolle vor der Aufgabe, etwas Diffusem Kontur und Festigkeit zu geben und dem Widerstrebenden und Auseinanderbrechenden Durchgängigkeit zu verleihen. So ging die Plausibilität von Tonis Revolte, die Renato Grünig mit präzisem Spiel einbrachte, auf Kosten des dritten Bildes, wo sein Auftritt als arrivierter Künstler und erwachsener Mensch manche Frage offenliess.

 

Die übrigen Interpretationen waren weitgehend vom Ende her bestimmt, und da waren sie überzeugend: Die stille Apathie, in die Michael Ogilvies Gärtnermeister versunken war, die Äusserlichkeit der Bonhomie, mit der Ulrich Radkes Stadtrat das Geschäft der Euthanasie betrieb, und die Eigensinnigkeit von Claudia Federspiels Mutter, die sich in das Gefängnis ihrer Gedankenwelt geflüchtet hatte. Doch auch hier musste die Stimmigkeit um einen Preis erkauft werden. Darum nämlich, das den Darstellungen am Anfang ein Rest von Willkürlichkeit anhaftete, der erst am Schluss aufging.

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