Flügeljahre. Jan Hagel.

Komödie.

Städtebundtheater Biel–Solothurn.

Bieler Tagblatt, 29. Mai 1980.

 

 

Ist das Minimum gut genug?

 

Das Städtebundtheater ist vertraglich gezwungen, Boulevardstücke zu bringen. Jan Hagels "Flügeljahre", die nach zirka acht Jahren ihre Uraufführung erlebten, sind beim Bieler Publikum angekommen. Das sind die Fakten. Trotzdem stellt unser Kritiker seiner persönlich gefärbten Polemik zwei ernstgemeinte Anfragen voraus. Die eine ans Theater: "Wenn schon Boulevard – warum nicht das beste?" Die andere ans Publikum: "Dankbarkeit in Ehren – aber woran soll das Theater wachsen, wenn Sie ihm keine Ansprüche stellen?"

 

Vor acht Jahren machte der Münchner Theaterkritiker Benjamin Heinrichs seinem Ärger öffentlich Luft. Unter der Überschrift "Nachricht aus der Konditorei" weigerte er sich, die Premiere eines Boulevardstücks zu besprechen. Grund: "Eine Theaterkritik ist überflüssig. Keine Zeitung käme auf die Idee, ihren Kunstkritiker in die Münchner Grosskonditoreien zu schicken – und sie dann Torten rezensieren zu lassen. Von Theaterkritikern wird aber etwas Ähnliches noch immer erwartet: die Auseinandersetzung mit Fabrikware, mit Serienkonfektion."

 

Nun, das Städtebundtheater ist keine Grosskonditorei. Hier wird noch, wenn man so sagen kann, am Stück gearbeitet. Doch zumindest einmal im Jahr, an der dritten Premiere der Spielzeit, versucht man's auch bei uns, den Grossen gleichzutun, und man bringt "Boulevard".

 

Das werde, sagt man, von den Zuschauern verlangt. Schön, warum sollte unser Theater solche Wünsche nicht berücksichtigen, wenn sogar das Wiener Akademietheater – eine der führenden Sprechbühnen – Boulevardstücke anbietet?

 

Also, gehen wir trotz Heinrichs' Protest vorurteilslos an die Sache heran! Lassen wir die Wissenschaft zu Wort kommen und schlagen wir das "Sachwörterbuch der Literatur" auf! Da steht:

 

"Boulevardstück (frz.) urspr. die Repertoirestücke der grossen Pariser Boulevardtheater zu Ende des 19. Jh., dann allg. bühnensicheres Unterhaltungslustspiel ohne bes. Bemühung um gehaltliche Tiefe oder avantgardistische Formexperimente, meist handwerklich saubere, im Zeitgeschmack verpackte, harmlos-reizvolle Erfolgsstücke (bes. Ehebruchskomödien) des Gebrauchstheaters mit geistreich-brillantem Dialog, chargierender Psychologie und dankbaren Rollen."

 

Na? Das klingt doch nicht schlecht! Wenn das "Boulevardtheater" ist, dann kann man sich's schon gefallen lassen, oder?

 

Soweit die Theorie. Wer aber mit dieser – wie sich hinterher herausstellt – zu positiven Einstellung das Stadttheater und Jan Hagels "Flügeljahre" aufsucht, wird schonungslos aus den rosigen Definitionen der Wissenschaft gerissen und auf den harten Boden der Praxis gestellt. Und diese Praxis sagt: Es gibt gutes und schlechtes Boulevardtheater.

 

Wohl mag es Stücke geben, die "handwerklich sauber" gemacht sind, aber, so lernt man nun, es gibt auch Stümperei. Wohl mag es "reizvolle Erfolgsstücke" geben, aber es gibt auch fade Schubladenhüter. Zu diesen gehören die "Flügeljahre", die ein undurchschaubares Geschick nach achtjährigem Dämmerschlaf ins Scheinwerferlicht einer Provinzbühne verschlagen hat.

 

Wenn wir voraussetzen, dass im Boulevardstück "geistreich-brillante" Dialoge vorkommen, so müssen wir nun feststellen, dass man sich zuweilen mit geistreichelnden Wortspielen zufrieden geben muss. Aber das ist noch nicht alles, was man bei Jan Hagels Stück dazulernen kann. Es zeigt auch, dass "chargierende Psychologie" zwei Fremdwörter eines literaturwissenschaftlichen Lexikons sind, die der Praxis fremd bleiben. In unserem Fall nämlich muss der Zuschauer alles vergessen können, was er an Lebenserfahrung mitbringt, um zu glauben, was er sieht.

 

Eine letzte Charakterisierung bleibt übrig: "dankbare Rollen". Ich möchte nicht so taktlos sein und die Schauspieler auf Ehre und Gewissen fragen, ob sie ihre Rollen dankbar finden. Die Aufführung zeigt ja ihre Einstellung deutlich genug: gegen die Unbeträchtlichkeit des Stücks erhebt keiner von ihnen nennenswerte darstellerische Einwände...

 

Vor acht Jahren hat sich ein Münchner Theaterkritiker geweigert, die Premiere eines Boulevardstücks nach allen Regeln des Fachs zu besprechen. Heute nehme ich dieses Recht für mich in Anspruch.

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