Tosca. Giacomo Puccini.

Garcia Navarro, Michael Hampe und Willy Decker, Ezio Frigerio. Oper.

Bregenzer Festspiele.

Radio DRS-2, Reflexe, 2. Augst 1984.

 

 

Von allen Opern ist "Tosca" vielleicht die dramatischste. Kaum hat sich der Vorhang gehoben, stürzt auch schon Angelotti herein, ein entwichener Sträfling, der für seine republikanische Gesinnung büsst.

 

(Musik)

 

Kaum hat sich Angelotti in einer Seitenkapelle des Kirchenraums versteckt, erklingt ein humoristisches Motiv:

 

(Musik)

 

Der Mesner kommt, ein fauler, verfressener Franziskanermönch. Und dann ein lyrisch-elegischer Ton: Auftritt des Malers Cavaradossi:

 

(Musik)

 

Dieser Wechsel der Töne erfolgt auf zweihundert Takten, in weniger als fünf Minuten. Die Partitur rafft die Handlung also aufs knappste zusammen. Kein Ton zuviel, kein Dialogteil überflüssig; alles ist durchdacht, berechnet, notwendig, sinnvoll.

 

Die gleiche Ökonomie künstlerischer Mittel zeigt die Inszenierung der Bregenzer Festspiele.

 

Wir sind immer noch im Kirchenraum. Cavaradossi steht auf der Staffelei, der Mesner sitzt unten bei den Farbtöpfen und putzt die Pinsel.

 

(Musik)

 

Das Wichtigste geschieht in den Worten. Da wird die Handlung exponiert. Die Pinsel, die der Mesner reinigt, sind Nebensache. Der Mann hantiert auch nur beiläufig daran herum, nachlässig beinah – aber schau: die Bewegungen sind getragen vom Rhythmus der Musik. Da, wo sie langsamer wird,

 

(Musik)

 

streift der Mesner den gereinigten Pinsel ab und stell ihn in die Büchse zurück.

 

(Musik)

 

Das alles geschieht, wie gesagt, ganz beiläufig. Aber genau in dieser Unscheinbarkeit zeigt sich, wie sorgfältig die Regisseure Michael Hampe und Willy Decker mit der Partitur umgegangen sind. In ihrer Inszenierung ist auch das belangloseste Detail bedacht und auf seine Notwendigkeit hin geprüft. Und damit trifft die Aufführung präzis den Stil der Musik, in der Puccini ebenfalls ein dichtes Netz sinnreicher Bezüge geknüpft hat.

 

Unaufdringlich, aber gescheit wie die Inszenierung, ist auch das Bühnenbild von Ezio Frigerio. Die Kirche Santa Andrea della valle, in welcher der erste Akt spielt, ist zweigeschossig. Die lichtvolle Prozession der Geistlichen zieht auf der Mittelempore auf, während unten, im düsteren Hauptschiff, Scarpia seine unheilvollen Pläne schmiedet. Mit dieser Aufteilung des Raums wird die Bühne unvermerkt zum symbolischen Lokal. Die Geistlichen in der Höhe, umgeben von Weihrauchduft, schweben buchstäblich in den Wolken. Und das Tedeum, das sie anstimmen, ist nichts als luftiger Überbau. Unten aber, auf dem Boden der Wirklichkeit, steht der Polizeichef, der Feind aller republikanischen Freiheit.

 

Ja, dieser Scarpia. Auch er gehört zu den Glanzpunkten der Aufführung. Ingvar Wixell zeichnet ihn nicht als Theaterbösewicht. Sondern er ist ein Kavalier von vollendeter Höflichkeit. Und so wird die ganze Brutalität dieser Oper mit einem Mal unheimlich modern. Es ist nicht mehr persönlicher Hass, der die Liebenden Tosca und Cavaradossi verfolgt. Sondern sie werden vernichtet, weil sie zufällig in die Maschinerie der Macht geraten sind...

 

Der zweite Akt. Cavaradossi wird zum Verhör geführt. Die Tür öffnet sich, zwei Polizisten stossen den Maler mit energischen Bewegungen vor sich her. Hinter ihnen tritt würdevoll ein Geistlicher auf. Er gibt der Szene einen offiziellen Anstrich, mit seinem schwarzen Talar, den weissen Bäffchen, der grauen Perücke und dem silbernen Kreuz. Die Verhöhnung des freiheitlichen Menschen geschieht damit unter dem Segen der Kirche. Hinter dem Geistlichen kommt der Sekretär, er wird das Protokoll führen, damit alles seinen geordnete Gang gehe. Etwas abgesetzt von den übrigen steht noch ein kleiner Mann in braunem Anzug, offenbar ein Diener, der einen kleinen ledernen Koffer nachträgt. Scarpia befiehlt, das Verhör zu eröffnen, und die Gruppe wechselt in den Nebenraum hinüber.

 

Die Spannung steigt. Tosca hält den Zynismus des Polizeichefs nicht mehr aus. Sie stürzt auf ihn zu, schlägt mit den Fäusten an seine Brust und ruft voller Abscheu: "Welch teuflisches Grinsen!"

 

(Musik)

 

Er aber, ohne die Fassung zu verlieren, breitet entschuldigend die Arme aus, als wollte er sagen:

 

(Musik)

 

"Ach, Madame, das Ganze tut mir so leid wie Ihnen. Aber Sie sind ja schuld, dass wir Cavaradossi foltern müssen." Und dann, ganz sachlich, so wie ein Techniker die Maschine in Bewegung setzt, gibt er das Zeichen: Los! Und wir ahnen,

 

(Musik)

 

wie jetzt im Nebenraum die Instrumente angezogen werden und Cavaradossi ins Fleisch dringen.

 

(Musik)

 

Zehn Minuten später. Die Folter ist beendet. Blutüberströmt wird das Opfer von den Polizisten ins Zimmer geschleppt, und dahinter kommt wieder der Geistliche. Hoheitsvoll schreitet er am Verwundeten vorbei und verabschiedet sich mit einem gnädigen Nicken. "Du darfst es dir zur Ehre anrechnen", sagt dieses Nicken, "dass du in Gegenwart der alleinseligmachenden Kirche gefoltert worden bist." Der Schreiber geht vorbei, und zuletzt kommt wieder der kleine Mann mit dem unförmigen Koffer. Aber diesmal ist er in Hemdsärmeln. Und nun, im Rückblick, erkennen wir, was für eine Szene sich im Nebenraum abgespielt haben muss: Der kleine Mann hat dort seine Weste ausgezogen, über einen Stuhl gelegt, dann hat er den Koffer geöffnet, die Folterinstrumente sorgsam herausgenommen und fachmännisch an die Glieder des Verdächtigen angesetzt. Das alles wird in der Aufführung evoziert, weil sie bis ins Detail durchdacht worden ist.

 

Der letzte Akt. Cavaradossi steht vor der Exekution. Und während die Klarinette das Thema der Arie intoniert, dreht er mit einer grossen, langsamen Bewegung den Kopf,

 

(Musik)

 

sein Blick liebkost noch einmal Strassen, Häuser, Plätze, Kirchen, Brunnen, Bäume, und nun hat sein Auge das Panorama der heiligen Stadt abgeschritten, und nun nimmt er Abschied:

 

(Musik)

 

Das alles ist nicht mehr Oper im landläufigen Sinn – es ist Musiktheater in höchster Vollendung. Wort und Ton, Bewegung und Bild sind zu unauflösbarer Einheit verschmolzen und ergeben ein überwältigendes, sinnreiches Ganzes. Und dabei habe ich noch gar nicht gesagt, wie subtil Garcia Navarro als Dirigent die Farben der Partitur aufträgt, wie bewegend und schön Mara Zampieri die Titelpartie gestaltet, wie leuchtend sich Giacomo Aragalls Tenorstimme ausnimmt, wie hervorragend die Nebenrollen mit Rudolf Mazzola und Vladimir de Kanel besetzt sind. Gut, vielleicht war ein Mezzopiano mal etwas zu laut gesungen, vielleicht war ein Bläsereinsatz nicht ganz rein – aber was soll's bei dieser Aufführung, die der "Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" gleichkommt.

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