Biographie. Max Frisch.

Städtebundtheater Biel-Solothurn.

Bieler Tagblatt, 18. Februar 1984.

 

 

Kürmann, so heisst der Held im "Spiel" von Max Frisch. Kürmann – der Mann, der wählen kann. Wählen, wie er sein Leben gestalten wird. Er darf es besser machen als das erste Mal, denn er bekommt die Chance, seine "Biographie" noch einmal anzufangen. Aber es geht ihm wie der alten Spieluhr im Stück: Er gehört zu den "Figuren, die immer die gleichen Gesten machen, sobald es klimpert, und immer ist es dieselbe Walze."

 

Einmal hatte er gerufen: "Wenn ich noch einmal anfangen könnte, ich wüsste genau, was ich anders machen würde." Und dann geschah das Wunder. Ein gütiges Schicksal schenkte ihm die Gunst, noch einmal anfangen zu dürfen. Kürmann darf ein neues Leben beginnen, ohne das alte vergessen zu haben.

 

Nun blättert er in seinem Leben vorwärts und zurück – wie in einem Buch. Immer wieder sucht er die Momente der Entscheidung auf und probiert neue Züge – wie ein Schachspieler.

 

Es gibt vor allem einen Augenblick, den er nicht wieder erleben möchte. Es ist der Moment, als seine Frau sagte: "Ich habe mit einem Anwalt gesprochen. Es ist einfacher, meint er, wenn wir den gleichen Anwalt nehmen. Wenn's zu einer sogenannten Kampfscheidung kommt, meint er, dauert das mindestens ein Jahr..."

 

Damals hatte Antoinette einen Liebhaber. Und ihrem Mann hatte sie seit langem nichts mehr zu sagen als: "Hannes, ich gehe jetzt. Nachmittags bin ich in der Bibliothek, abends bin ich da. Andernfalls rufe ich an." Jeden Tag dieselben Sätze, jeden Tag dieselbe Gleichgültigkeit, dieselbe Leere. Bis sich Antoinette entscheidet, endgültig zu gehen.

 

Kürmann aber steht da und weiss nicht, wie er sich zu dieser Demütigung verhalten soll. Selbstmord? Zu kitschig. Antoinette umbringen? Unmöglich, er liebt sie zu stark; also Haltung bewahren. Antoinette ziehen lassen? Auch keine Lösung. Was immer Kürmann bedenkt, es ändert nichts an der Tatsache, dass seine Frau ihn nicht mehr liebt. Was kann man da noch machen?

 

So führt uns das Stück die Krise des Homo Faber vor: Kürmann verwechselt das Leben mit dem Schachspiel. Er meint, es liege an einem falschen Zug, dass ihn seine Frau verlässt. Und er sieht nicht, dass gerade hier der Fehler liegt: In der Absicht, man könne das Leben planen wie den Ablauf einer Maschine.

 

Dieses Vorausdenken, diese Angst vor dem falschen Zug nimmt Kürmann die Freiheit. Er ist nicht mehr fähig zur Spontaneität. Darum stirbt seine Ehe ab, und nicht wegen einem falschen Schachzug.

 

Wenn Kürmann am Ende des Stücks gleich weit ist wie am Anfang, dann will Frisch damit nicht sagen: Es ist alles vorausbestimmt, ihr könnt dem Schicksal nicht entrinnen. Sondern er will sagen: Solange ihr das Leben auffasst wie etwas Berechenbares, versäumt ihr zu leben.

 

Es ist ein beklemmendes, anregendes, witziges Stück, das Frisch da geschrieben hat. Sicher nicht sein bestes, aber durchaus spielbar, durchaus aktuell. Mit der "Biographie" hat das Städtebundtheater keinen schlechten Griff getan.

 

Weniger überzeugt bin ich jedoch von der Wahl des Regisseurs. Gewiss, Alex Freihart kennt das Metier. Er hat eine saubere Handschrift, bleibt zuverlässig am Text, ist mit den Verhältnissen des hiesigen Theaters bestens vertraut. Denn nach elf Direktionsjahren kennt Freihart seine Schauspieler, und seine Schauspieler kennen ihn. Aber hier liegt, wie ich es sehe, auch die Krux. Diese jahrelange Vertrautheit verführt zu Gleichgültigkeit. Freihart liess die Schauspieler auf den alten Geleisen laufen, statt neue Töne von ihnen zu fordern.

 

So kommt es, dass die meisten ungeniert in ihrer alten Manier auftreten. Geräuschvoll wie immer zieht Alf Beinell seinen Atem ein. Kurt Bigger schreitet einher wie Kurt Bigger – unbekümmert um die Figur, die er darstellen soll. Mit bekannter Langeweile steht Raul Serda abseits. Er gibt sich nicht einmal die Mühe, seine zwölf italienischen Wörter korrekt auszusprechen. Herbert Boss hat fünf verschiedene Rollen. Aber wenn er das Kostüm nicht wechselte, könnte man sie nicht auseinanderhalten.

 

Ich finde: So leicht darf man sich's nicht machen. Theater besteht nicht darin, dass kostümierte Leute vorgedruckte Sätze sprechen. Vor allem nicht bei einem solchen Stück, wo die immer gleichen Szenen immer und immer wieder durchgespielt werden. Hier hätte der Regisseur an den Zwischentönen, an den Stimmungen, an den Subtilitäten feilen müssen. Gerade, wenn die einzelnen Szenen verschieden gespielt worden wären, hätte ihre fatale Einförmigkeit den stärksten Eindruck gemacht.

 

Auch die Hauptdarsteller müssen sich diese Vorbehalte gefallen lassen. Klaus Götte als Kürmann und Priska Weidmann als Antoinette bleiben ihrem Part die nötige Veränderung schuldig. Im Unterschied zu den Nebenrollen könnten sie Entwicklungen wiedergeben: Den Prozess des Älterwerdens, das Verkümmern einer Ehe – wenn sie wollten. Sie beschränken sich indes – wie auch Georges Weiss als Registrator – aufs handwerklich Zuverlässige. Ob das genügt? Ansichtssache. Es reicht jedenfalls nicht, um der Aufführung jene beklemmende Intensität zu geben, die sie haben könnte.

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