Unter dem Blick des Urhebers. © Birgit Hupfeld.

 
 

 

Warten auf Godot. Samuel Beckett.

Schauspiel.

Claudia Bauer, Andreas Auerbach, Vanessa Rust, Michael Gumpinger, Gerrit Jurda, Jonas Alsleben. Residenztheater München.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 11. Dezember 2025.

 

> Das Programmheft bringt die grossen Namen der Beckett-Exegese: Martin Esslin, Gerhard Stadelmaier, Günther Anders, Pierre Temkine. Sie beleuchten "Warten auf Godot" aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Diesem Ansatz folgt auch Claudia Bauers Inszenierung am Münchner Residenztheater. Sie erkundet zusammen mit vier starken Schauspielern die Wirkung der Perspektive. Dabei gestaltet sie die Dämmerung des zweiten Akts so beklemmend, als brächte sie aller Tage Abend. <

 

Die ästhetischen Wurzeln von "Warten auf Godot" reichen zurück bis zu Hamlet, Don Juan und Faust, wenn wir Charles-Augustin Sainte-Beuves Ansicht folgen. Er war "einer der entscheidensten, aber auch problematischsten Literaturkritiker der modernen Literaturgeschichte" (Helgard Brauns). Gegen ihn schrieb Marcel Proust zwischen 1908 und 1910 "Contre Sainte-Beuve". Der legendäre Essay machte den Namen des Angegriffenen unsterblich.

 

Das Opus Magnum des Kritikers jedoch kennt nur noch die Spezialforschung: "Port Royal". So heisst Sainte-Beuves Darstellung des Jansenismus. "Die geistesgeschichtlichen Thesen dieses Werks prägten noch bis ins 20. Jahrhundert, zumeist indirekt, unsere Sicht des französischen 17. Jahrhunderts wesentlich mit" (Christoph Dröge). Die sechs Bände erschienen zwischen 1840 und 1859. Im Anhang des letzten Bandes finden sich Sätze, die direkt zu "Warten auf Godot" führen. Sainte-Beuve beschreibt – 166 Jahre vor unserer Zeit – die Situation, in der wir uns heute befinden:  

 

Früher, in der Literaturepoche des Regelmässigen, die klassische genannt, galt als bester Dichter, wer das perfekteste, schönste Gedicht geschaffen hatte, das klarste, das angenehmste zum Lesen, das vollendetste in jeder Hinsicht, die "Aeneis" [Vergil], "Jerusalem" [Tasso], eine schöne Tragödie. Heute will man anderes. Der grösste Dichter ist für uns, wer in seinen Werken dem Leser am meisten zu imaginieren und zu träumen gab, wer ihn am meisten anspornte, selber zu poetisieren. Der grösste Dichter ist nicht, wer es am besten gemacht hat: es ist, wer am meisten suggeriert, bei dem man anfänglich nicht recht weiss, was er hat sagen und ausdrücken wollen, der uns viel zu wünschen übriglässt, zu erklären, zu grübeln, viel selber zu vollenden. Es gibt nichts Höheres, um unsere Bewunderung zu wecken und zu nähren, als die unfertigen und unauslotbaren Dichter: denn heute will man, dass die Poesie im Leser sei, fast in gleichem Mass wie im Dichter. Seit die Kritik geboren und gross wurde, überflutet sie alles, überbietet sie alles, sie liebt die dichterischen Werke nicht, die rundum vom Licht umflossen und vollkommen sind; damit kann sie nichts anfangen. Das Unbestimmte, das Obskure, das Schwierige, wenn es sich mit einiger Grösse vereinigt, ist eher ihre Sache. Sie braucht Stoff zum Konstruieren und Schaffen für sich selbst. Sie ist überhaupt nicht verärgert, wenn sie einen Knäuel zu entwirren hat und wenn man ihr von Zeit zu Zeit Schwierigkeiten macht. Es missfällt ihr nicht zu spüren, dass sie ihrerseits in ein Schaffen kommt. Wenn ich sie einmal gesehen und bewundert habe in der Reinheit ihrer Zeichnung und ihres Umrisses, was soll ich da noch sagen zu Dido und Armida, Bradamante oder Clorinde, Angélique oder Herminie? Sprecht zu mir von Faust, von Beatrice, von Mignon, Don Juan, Hamlet, diesen Figuren mit zwei- oder dreifacher Bedeutung, Diskussionsgegenstände, in gewisser Hinsicht geheimnisvoll, undefiniert, unvollendet, dehnbar, ständig wechselnd und veränderlich: Sprecht zu mir von dem, was Grund und Vorwand gibt zu ewigen Grübeleien und endlosen Betrachtungen. Wenn man "Le Lutrin" [von Boileau] oder "Athalie" [von Racine] gelesen hat, wurde der Geist erholt oder erhoben; man hat ein nobles oder feines Vergnügen genossen; doch alles ist gesagt, vollendet, fertig, unverrückbar; und dann ... gibt es hier nichts Rätselhaftes; alles erscheint recht flach.


 

Was Sainte-Beuve 1859 im Anhang von "Port Royal" niedergelegt hat, findet sich, 110 Jahre später, in Theodor W. Adornos "Ästhetischer Theorie" wieder – dort zum Grundsatz erhoben:

 

Alle Kunstwerke, und Kunst insgesamt, sind Rätsel; das hat von altersher die Theorie der Kunst irritiert. Dass Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug verbergen, nennt den Rätselcharakter unterm Aspekt der Sprache. ... Kunstwerke, die der Betrachtung und dem Gedanken ohne Rest aufgehen, sind keine.

 

Das Rätsel nun, welches Samuel Beckett mit "Warten auf Godot" formuliert hat, beleuchtet Claudia Bauers Inszenierung von verschiedenen Seiten her. Dafür dreht sich Andreas Auerbachs geneigtes Podest in alle Richtungen, und die Beleuchtung von Gerrit Jurda wechselt unablässig die Farbe. Die Kostüme von Vanessa Rust führen vom klassischen Godot-Stil übers phantastische Märchentheater bis hinüber zu Disneyland und Horrorstück.

 

Dass es sich bei der Aufführung um eine Versuchsanlage handelt, zeigen die nackten Leuchtröhren, die metallenen Gerüststützen, der aufgeschlagene Spannteppich – und der Schminktisch, an dem sich Florian von Manteuffel und Max Rothbart für die Rollen von Wladimir und Estragon bereitmachen. Dann beginnt das Stück unter dem Auge des Urhebers.

 

Samuel Becketts KI-generierter Kopf (Video Jonas Alsleben) spricht die Regieanweisungen. Beim Schreiben erwägt der Autor die Darstellungsmöglichkeiten. Was das Theater zeigt, ist demzufolge nicht fest, nicht definitiv, sondern flüssig: Im Moment erscheint der Gang der Handlung so, doch könnte er sich auch anders gestalten. Auf diese Weise spiegelt die Mikrostruktur der Aufführung die Makrostruktur der Vorlage: Im ersten Akt ist der Baum kahl, im zweiten belaubt. Im ersten Akt erscheint Pozzo als machtbewusster Herr, im zweiten als hilfloser Blinder. Im ersten Akt kann Lucky sprechen, im zweiten ist er stumm.

 

Der intellektuelle Ansatz von Stück und Inszenierung kommt ins Gleichgewicht durch die Kraft, welche aus den Szenen aufsteigt und den Zuschauer in seiner Gefühlstiefe anspricht. Aus dem Zusammenspiel von Raum, Beleuchtung, Musik (Michael Gumpinger) und Kontext einerseits – und der bemerkenswerten Interpretation der Rollen von Pozzo und Lucky anderseits erwächst die phantastische Wirkung dieses "Godot". Verkörpert durch Lukas Rüppel erscheint Lucky nicht als Wrack, sondern als halb vergrabene, aber zum Platzen gefüllte Landmine. Und Michael Goldberg zeichnet Pozzo als Primadonna assoluta, deren Sirenengesang das Publikum gefangennimmt.

 

"Wie war das Theater?", fragt der Türke, der in der Internationalen Apotheke das bestellte Deo aushändigt. "Oh, über alle Massen gut!" "Hat man dich bestochen?" "Das war diesmal nicht nötig." "Dann stimmt also, was du als Journalist sagst?" "Ja." "Unglaublich."

Monolog. 

Dialog.