Ein Kaleidoskop der Lebensumstände. © Armin Smailovic.

 
 

 

Sauhund. Lion Christ.

Romanadaptation.

Florian Fischer, Robin Metzer, Jacqueline Koch. Münchner Kammerspiele.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 11. Dezember 2025.

 

> Der bayerische Simplicius heisst Flori. Er stammt aus einer mittelgrossen Provinzstadt namens Wolfratshausen. In die Welt jagt ihn nicht der Krieg, sondern der Trieb. Und nicht mehr Kugeln sind es, die ihn und seine Kameraden bedrohen, sondern die humanen Immunschwäche-Viren HIV. Der Untertitel der Aufführung fasst die Situation zusammen: "80er in München: gay, vom Land, lebenshungrig". <

 

Die Aufführung ist gezeichnet von der Stärke und Schwäche des Theaters. Die Stärke kommt gleich ins Blickfeld: Vermittlung der Welt durch Menschen. Elias Krischke tritt vor den Vorhang und beginnt zu reden. Im Kostüm von Jacqueline Koch zieht er den Blick auf sich. Und schon steht Flori da. Mit dem Mut der Scheuen zitiert er die Annonce, die er 1983 in der Zeitschrift "Adam" aufgegeben hat: "Suche liebevollen Freund." Die Zerbrechlichkeit, Naivität und Verlorenheit eines jungen Schwulen finden hier ihren Ausdruck und erreichen den Zuschauer.

 

Unvermittelt tritt Edmund Telgenkämper hinzu. Man kann gleich erfassen, um was für einen Typ es sich handelt: Maskulin auftrumpfender Möbelschreiner. Auch er wird getrieben: aber nicht vom Liebesbedürfnis, sondern von der Sexualnot. Er sucht nicht Zärtlichkeit, sondern Entladung. Um seine Gestalt zu umreissen, genügen ein paar wenige Striche: Rasches Neigen des Kopfs, kräftige Dehnung der Schultern, und schon kommt es zu Floris Entjungferung.

 

Simplicius Simplicissimus alias Flori zieht nach München in die Grossstadt. Der wortkarge Abschied von der Mutter greift ans Herz. Das Paar spielt sich etwas vor, und lastend dehnt sich das Ungesagte aus. Schauspielerin Annette Paulmann setzt durch Pausen, Abwendung des Blicks und hängende Arme schmerzhafte Akzente. Mit feinem Gefühl für das Minimum regelt Regisseur Florian Fischer das Spiel von Nähe und Distanz. Später bringt wirksames Auf- und Niedergleiten von Vorhängen, durchsetzt mit Videocollagen (Robin Metzer), die schwule Road- und Geschichtsnovel in Fahrt bis zur Einmündung in die AIDS-Katastrophe.

 

Die Schwäche des Theaters, vom Publikum in Form von Längen wahrgenommen, ergibt sich im konkreten Fall durch den Mangel an den Spurenelementen Strenge und Struktur. Er wiederum erklärt sich durch den Umstand, dass zu viele Köche an der Romanadaptation mitgewirkt haben, nämlich alle Beteiligten: Die drei Schauspieler, der Regisseur, der Bühnen- und Videomann, der Konzept- und Musikmann sowie die Dramaturgin. Insgesamt also sieben Leute. Und das schafft das Problem.

 

Der 2023 im Hanser Verlag erschienene Debütroman von Lion Christ hat 368 Seiten. Die Aufführung an den Münchner Kammerspielen aber dauert bloss anderthalb Stunden (anstatt sieben Tagen). Das bedingt Auswahl. Ihr fällt viel Stoffliches zum Opfer. Aber auch Formales. Die Bühne kommt anders vom einen zum andern als das Buch. Wirksamkeit ist ihr wichtiger als Begründung. Das führt zu einer episodenhaften Erzählweise, bei der die Schnipsel in Raum und Zeit flottieren. Manche Frage bleibt offen: Wie kommt Flori von A nach B? Und wann? Wo befinden sich A und B? Wovon lebt der Bursche? Und was gibt es am Schluss aus ihm? Strukturell (nicht geographisch) fehlt es an Verortung und Verfugung. Deshalb wirkt die Romanadaptation letzten Endes flau.

 

Wohl bietet "Sauhund" ein Kaleidoskop der Lebensumstände in den 1980er Jahren, doch Kaleidoskop bedeutet Huschhusch. Reduktion im Sinne von "less is more" würde Vertiefung bringen, aber auch verlangen. Jetzt weckt die Aufführung vor allem ein Gefühl ungestillten Lebenshungers. Anderseits erleben das auch viele Menschen im Saal. Insofern dient der Besuch von "Sauhund" den Normalen und Angepassten zur Selbstbefragung.

Schwule Liebe. 

Schwule Einsamkeit. 

Schwule Lebensbahn.