Bürgerliches Interieur. © Ingo Hoehn.

 

 

Hänsel und Gretel. Engelbert Humperdinck.

Märchenspiel in drei Bildern.

Alvetina Ioffe, Raimund Orfeo Voigt. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 9. November 2025.

 

> In der Pause werde ich angesprochen. Während ich mir die Antwort zurechtlege, fährt die Fragende fort: "Zu laut, nicht wahr?" Ich nicke. Dann schiebe ich nach: "Falsche Stilwahl. Dirigat daneben, Inszenierung daneben." "Also gibt es nichts zu rühmen?" "Leider nein. Ich werde einen Verriss schreiben müssen." "O Sie Armer!" "Ja. Und das Schlimmste ist: Ich weiss nicht, was ich sagen soll. Zu dieser Aufführung fällt mir nichts ein." <

 

In seinem Erinnerungsbuch "Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten" berichtet Friedrich Torberg von einem amerikanischen Ehepaar, welches seinen Lunch in der legendären Mozartstadt mit den ebenso legendären Salzburger Nockerln krönt und anschliessend nach dem Wirt ruft, um sich das Rezept für die unübertreffliche Nachspeise zu erbitten. Die Frau erhält's, kann aber nicht glauben, dass die Delikatesse so wenige Zutaten verlangt: "Fehlt wirklich nichts? Haben Sie mir alles gesagt?" Der Wirt schwört, nach diesem Rezept werde in seinem Haus gekocht, und geht in die Küche zurück. Nun beugt sich ein Gast vom Nebentisch hinüber: "Das Rezept ist nicht komplett! Die Hauptsache wurde Ihnen verheimlicht." "Ich habe es mir gedacht. Bitte sagen Sie mir, was fehlt!" "Achthundert Jahre Habsburg."

 

Es braucht etwa gleich viele hundert Jahre Deutschland, damit Engelbert Humperdincks Märchenoper "Hänsel und Gretel" gelingen kann. Lucie Kayas, die Professorin für Musikkultur am Pariser Konservatorium, erklärt:

 

Obwohl die Oper bei ihrer Uraufführung am 23. Dezember 1893 in Weimar grossen Erfolg fand, blieb sie jenseits des Rheins nahezu unbekannt. Ihr zutiefst germanischer Charakter schafft eine Barriere zwischen dem Werk und seinem ausländischen Hörer. Er muss sich wirklich anstrengen, um sich anzupassen und eine andere Sensibilität zu entwickeln. Sonst kann er Wesen und Originalität von "Hänsel und Gretel" nicht erfassen.

 

Dieses Manko vernimmt man nun in Bern, sobald das Orchester zu spielen beginnt: Dem Klang fehlt die deutsche Tradition. Sie ist charakterisiert durch die Verwischung der Konturen zugunsten pulsierender Wärme. In der deutschen Schule ragen die Einzelheiten aus dem breiten musikalischen Strom nicht heraus, sondern bleiben verbunden durch eine Linie, die sich über hunderte von Takten erstreckt. Nicht Plötzlichkeit wird angestrebt, nicht Akzentuierung der Wechsel, sondern eine Kultur der sanften Ausschläge, zu denen organisch hin und wieder weggeführt wird.

 

Alvetina Ioffes Dirigat in Bern würde demzufolge ausgezeichnet zu Prokofjews Märchenoper "Die Liebe zu den drei Orangen" passen, nicht aber zu Humperdincks "Hänsel und Gretel". Da geht die Interpretation am Charakter des Werks vorbei: Überschuss an Lautstärke; Mangel an Naivität, Andacht und Innigkeit; falsche Stilwahl.

 

Für Regie und Bühne zeichnet Raimund Orfeo Voigt. Wie in seiner grandiosen "Tosca" der vorletzten Spielzeit nimmt sich die Inszenierung zurück. Sie stellt einfach die Sänger in den Raum. Doch im Unterschied zu Puccini trägt diese Zurückhaltung bei Humperdinck nicht. Die "göttlichen Längen", die Engelbert von seinem Mentor Wagner übernommen hat, verlangen, gefüllt zu werden. Doch Voigt fällt dazu nichts ein als optisch angenehmes Gefuchtel.

 

Damit aber eine Aufführung trägt, braucht sie ein klar lesbares, überzeugendes Konzept. In jedem Moment muss verstehbar sein, warum die Sänger auf der Bühne sind, in welcher Beziehung sie zueinanderstehen und aus welchem Grund sie sich in die eine und andere Richtung bewegen, kurzum: Es brauchte einen Erzählfluss, der die Tiefe der Personen und Situationen herausarbeitet.

 

Wie der aussehen könnte, hat Andreas Baesler mit seinem kongenialen Bühnenbildner Harald B. Thor 2013 am Capitole de Toulouse und 2019 am Staatstheater Nürnberg gezeigt. Auch bei ihnen waren Bühnenbild, Kostüme und Personen von wohlhabender Bürgerlichkeit gezeichnet. Doch die Handlung setzt nach dem Börsencrash ein: Der schwere Wohnraum einer gestern noch achtbaren Familie wird vom Pfändungsbeamten heimgesucht, und die guten Stücke (Standuhr, Schmuck, Bilder) werden von grauen Bediensteten mitleidlos weggetragen. Der Weihnachtsbaum ist zwar schon geschmückt, aber es wird keine Geschenke mehr geben. Wir sind jetzt arm.

 

Auf dieser Basis bekommt der Umstand, dass die Kinder Hunger haben, dass nichts mehr auf den Tisch kommt, dass sie in den Wald geschickt werden, um Beeren zu suchen, die beklemmende Komponente der sozialen Erniedrigung. Sie macht das Gruseln verständlich, welches das Opernpublikum der Gründerjahre am 23. Dezember 1893 bei Humperdincks dick belegtem Armutsgemälde empfand. Dieser Interpretation gegenüber wirkt die geleckte Berner Produktion enttäuschend oberflächlich. Dirigat daneben, Inszenierung daneben.

Vom Grauen ... 

... über die Gefahr ... 

... zur Erlösung.