The Boys Are Kissing. Zak Zarafshan.
Komödie.
Martina Gredler, Sophie Lux, Moana Stemberger. Volkstheater Wien.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 20. November 2025.
> Die hintere Hälfte des Saals mit den Plätzen der Kategorie II bleibt lange leer. Doch fünf Minuten vor der Vorstellung erobert sie ein Heer von jungen Menschen zwischen fünfzehn und zwanzig Jahren. Zusammen mit ihren Altersgenossen auf den Sitzen der Kategorie I bilden sie die starke Mehrheit des Publikums. Das Stück ist freilich auch für sie gemacht, und siehe, die jungen Erwachsenen folgen der Aufführung mit wachen, schnellen Reaktionen. Am Ende honorieren sie "The Boys Are Kissing" mit lang anhaltendem Jubel. <
In ihrer Jugend versah Charlotte Brontë (1816–1835), Autorin des grossen englischen Frauenromans "Jane Eyre", den Dienst eines Kindermädchens. Eine Bekannte erinnert sich:
Eines Tages, beim Abendessen der Kinder, sagte der Junge, ein acht- oder neunjähriger Knabe, in einem kleinen demonstrativen Gefühlsausbruch, während er seine Hand in die ihre legte: "Ich liebe Sie, Miss Brontë." Daraufhin rief die Mutter vor allen Kindern aus: "Die Gouvernante lieben, pfui!"
Zweihundert Jahre später zeigt der gute englische Mittelstand im Londoner Speckgürtel die gleiche Reaktion, als er vernimmt, dass ein Neunjähriger auf dem Schulhof einen Kameraden geküsst hat. Was für ein Beispiel gibt diese junge Schwuchtel! Sind die Kinder etwa schon von der Regenbogenliterarur in der Schulbibliothek verdorben worden? Wir wünschen nicht, dass unser Nachwuchs mit Perversen verkehrt! Beim Geküssten soll es sich ja um den "Sohn" zweier Lesben handeln. Dagegen darf man heute zwar nichts mehr sagen, doch wir möchten, dass unsere Kinder normal aufwachsen. Ist das zu viel verlangt?
Die 2023 uraufgeführte Komödie "The Boys Are Kissing" des in London lebenden britisch-iranischen Schriftstellers Zak Zarafshan nimmt den Vorfall auf dem Schulhof zum Anlass, um die aktuelle gesellschaftliche Lage mit jener überparteilichen Objektivität zu malen, die den wahren Künstler auszeichnet. Der Kuss des Neunjährigen führt zwei Elternpaare zusammen: ein herkömmliches heterosexuelles und ein avantgardistisch lesbisches. Beaufsichtigt wird die Auseinandersetzung von einem Paar schwuler Schutzengel mit den Namen Analis und Klitoris. Sie wurden vom lieben Gott auf die Erde gesandt, um den Bedrängten der LGBTQIA-Community beizustehen, weil der himmlische Vater die Liebe selbst ist und seit Schöpfungsbeginn auf Seiten der Verfemten steht.
Die Infantilität der heutigen Debatte gibt das Bühnenbild von Sophie Lux eindrücklich wieder. In den Plastikkostümen von Moana Stemberger bewegen sich die Schauspieler in einer riesigen Hüpfburg. Die jungen Zuschauer im Wiener Volkstheater sind ihr kaum entwachsen, und die Elternpaare auf der Bühne leben noch darin (nicht nur inszenatorisch, sondern auch entwicklungspsychologisch). Damit fallen bei "The Boys Are Kissing" Tonart und Ausstattung zusammen. Ein Treffer.
Aber die Wortdeutlichkeit! Ein generationenaltes Volkstheatergebrechen. Einwandfrei ist nur Simon Bauer, der Darsteller des glatzköpfigen Vaters. Die andern sind verwaschen, sobald sie in Erregung geraten oder die Sprechgeschwindigkeit steigern. Martina Gredler, die Regisseurin, hat ihren Job bis zur Premiere gemacht. Jetzt liegt die Verantwortung beim neuen Herrn des Hauses. – Verehrter Jan Philipp Gloger: Nachfeilen, bitte!
Die Welt als Hüpfburg.
Unter höherem Blick.
