Die kleinen Meerjungraun. Das Flutschige strikes back. Eine Einschwörung auf die Epoche der Transformationen von Kim de l'Horizon.
Schauspiel.
Trio ACE: Alia Luque, Christoph Rufer, Ellen Hofmann. Bühnen Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 28. September 2025.
> Eine ausserordentliche, aussergewöhnliche, ja in gewissem Sinn gar ausgezeichnete Produktion. Sie spricht aber nicht jedermann an – sondern nur die paar wenigen mit ähnlicher Sensibilität, wie es die des Autors ist. Die anderen muss Schauspielerin Lucia Kotikova an der Uraufführung mit der Frage aufstören: "Was gibt es hier zu lachen? Die Stelle ist ernst!" Ja, mein liebes Kind. Das muss man sehen. Nicht jedermanns Sache. <
Obwohl der Programmzettel von einem "Stückauftrag für das Schauspiel Bern" spricht, ist Kim de l'Horizons "Einschwörung auf die Epoche der Transformationen" mit dem Titel "Die kleinen Meerjungraun. Das Flutschige strikes back" nicht eigentlich ein Theaterstück, sondern ein mächtiger Wortstrom.
In einzelnen Abschnitten gestaltet er sich als Bewusstseinsstrom. Am festen Ufer erblickt das Publikum von den Zuschauerrängen aus, "was dem Autor so durch die Rübe rauscht", wie sich der berühmte Theaterkritiker der F.A.Z. Gerhard Stadelmaier auszudrücken beliebte.
Der Strom wird – wie schon das "Blutbuch" – geformt durch eine stupende Sprachartistik, welche das Ausdrucksvermögen der meisten Normalbürger hinter und unter sich lässt, und eine Überhelle des Bewusstseins, welche das dumpfe Alltagsempfinden der meisten Normalbürger mit Grauen erfüllt: So vieles zu durchleben, zu sehen und auszudrücken bedeutet hypertrophe Sensibilität bis hin zur Gefährdung für sich und andere. – Georg Christoph Lichtenberg:
Der Mann hatte so viel Verstand, dass er fast zu nichts mehr in der Welt zu gebrauchen war.
Kim de l'Horizon spricht zwar von sich, meint aber eigentlich jeden. Auf der Bühne behandelt er sein Problem als schwuler Mann als gesellschaftliches Problem. Pars pro toto. Im Undine-Mythos handelt er es ab:
"Ich weiss wohl, was du willst!", sagte die Meerhexe, "es ist dumm von dir! Gleichwohl sollst du deinen Willen haben, denn er wird dir Unglück bringen, meine schöne Prinzessin. Du willst gerne deinen Fischschwanz los sein und stattdessen zwei Stummel haben, um auf ihnen zu gehen wie die Menschen, damit der junge Prinz sich in dich verliebe, und damit du ihn und eine unsterbliche Seele bekommen kannst!" Dabei lachte die Hexe laut und widerlich.
(Hans Christian Andersen: Die kleine Meerjungfrau.)
Und Kim de l'Horizon in den "kleinen Meerjungraun":
Ich habe mein Leben lang versucht, eins von euch zu sein, einer von den Menschen, eine von den Geraden
Um in euren Humans Only Club aufgenommen zu werden
Und dieses Leben lang bin ich dran gescheitert
Unter den 13'600 Gedanken, die Lichtenberg (1742–1799) in seine "Sudelbücher" eingetragen hat, findet sich, gleich kurz wie "Mutter unser, die du bist im Himmel", auch "Die Wörter-Welt." Sie, die Wörter-Welt, definiert unsere "normale" Vorstellungsweise durch gegensätzliche Bereiche wie Erde und Wasser, Mann und Frau, Einheimische und Fremde, YB und Servette. Der Bipolarität gegenüber plädiert Kim de l'Horizon mit seiner "Einschwörung auf die Epoche der Transformationen" fürs Flüssige und Übergängliche, fürs Sowohl-als-auch anstelle des Entweder-oder:
Ich sage das, weil ich hoffe, dass wir gemeinsam weiterkommen
Und ich glaube daran, dass es Wege gibt, auf denen alle gehen können
Auch die, die nicht gehen können wie ihr
Wie die mythischen Wasserwesen (unten Fisch, oben Mensch) ist Kim de l'Horizons Wortstrom ebenfalls ambivalent. Nüchterne wie Lichtenberg werden vor seinem Inhalt zurückweichen und ihn "zu gekünstelt" finden:
Denn ohne triftige Gründe zu widersprechen, ist, glaube ich, was man eigentlich Superklugheit nennt, das ist, auch wenn sie es trifft, doch immer eine sehr leichtfertige Klugheit, die öfter fehlt als trifft.
(Brief an Franz Ferdinand Wolff, 14. Oktober 1782)
Andere wie Jean Paul hingegen werden sich davor verneigen:
Eine rechte Jungfrau ist euch eine Heilige, warum nicht der rechte Jüngling ein Heiliger? – Beide sind unschuldige höhere Kinder, denen nur nach der Laubknospe auch die Blütenknospe zerspringt. Ein Jüngling ist ein Lebens-Trunkener, und darum glüht er – wie einer, der sich durch physische Trunkenheit die jugendliche zurückholt – vom Wangen- und vom Herzensfeuer des Mutes und der weichsten Liebe zugleich. Die menschliche Natur muss tiefgegründete Güte haben, da sie gerade in den beiden Zuständen des Rausches, die sie verdoppeln und vor den Vergrösserspiegel bringen, statt vergrösserter Mängel nichts enthüllt als das Schönste und Beste gereift, nämlich Blume und Frucht, Liebe und Mut.
Kim de l'Horizons Wortstrom ist durchzogen von einer Skepsis, die gegenüber den eigenen Formulierungen nicht Halt macht. Die Fähigkeit, sich und sein Schreiben im Moment des Redens zu reflektieren, findet sich auch bei Wilhelm Raabe, der selber eine "Prinzessin Fisch" verfasst hat. Über den Erzähler schrieb Walter Kempowski 1972 in einem Brief:
Skeptisch sein, Sie wissen es, Skepsis ist der Optimismus, der sich nicht traut. Auch das Werk des grossen Wilhelm Raabe ist durchzogen von Skepsis. Er hat auch ein grosses Wissen von Glück gehabt und von Enttäuschung.
Das grosse Wissen von Glück und Enttäuschung teilt nun das Schauspiel der Bühnen Bern in den "kleinen Meerjungraun" mit denen, so Augen haben zu sehen, Ohren zu hören, ein Herz zu fühlen und einen Kopf zu denken.
Flüssig wie Inhalt und Sprache der Textvorlage ist auch die Inszenierung des Trios ACE (Alia Luque, Christoph Rufer, Ellen Hofmann) und das Spiel von Lucia Kotikova, Claudius Körber, Jonathan Loosli und Linus Schütz. Die Darsteller flutschen locker und übergangslos in die Haut des Autors, in die Haut der Wasserwesen und in ihre eigene. Und die Aufführung mündet in einen QR-Code mit der Aufschrift: "Live-Stream". Esprit, Humor und Mehrdeutigkeit bis zuletzt.
Dass das keine Spielerei sei, möchte ich eigentlich gar nicht behaupten, aber es ist jedenfalls – trotz der ungemeinen Wortbeherrschung, in die man sich vernarren könnte, – keine schriftstellerische Spielerei, sondern eine menschliche, mit viel Weichheit, Träumerei, Freiheit und dem moralischen Reichtum eines jener scheinbar unnützen, trägen Tage, wo sich unsere festen Überzeugungen in eine angenehme Gleichgültigkeit lockern.
(Robert Musil über Robert Walsers Erzählungen.)
Zwischen Stoff ...
... Haut und Fell.
