Die Gebärde der Führer. © Sébastien Toubon.
Une leçon d'histoire de France : La révolution. Hugo, Michelet, Dumas, Lamartine.
Schauspiel.
Aurélien Cros. Théâtre de Poche-Montparnasse, Paris.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 11. Oktober 2025.
> Am Abend jenes 6. Oktober 2025, an dem in Frankreich der dritte Ministerpräsident innert eines Jahres den Rücktritt gegeben hat, kommt das Théâtre de Poche-Montparnasse in seiner "Leçon d'histoire de France" zur Premiere des Kapitels "La révolution". Dazu vermerkt der hellsichtige Alleindarsteller Maxime d'Aboville in den Presseunterlagen: "Die Revolution sagt viel über einen bestimmten französischen Geist: Unbeugsamkeit, Neigung zu Revolte und Auflehnung, für die es seit den Bauernaufständen des Mittelalters bis zum Mai 68 und den Gelbwesten zahlreiche Beispiele in der Geschichte Frankreichs gibt: die Vorliebe für Freiheit, aber noch mehr die Leidenschaft für Gleichheit. Eine weitere Konstante: die Heftigkeit der politischen und intellektuellen Debatten, die Unfähigkeit zu Kompromissen und heiterer Gelassenheit." <
Im kleinen, intimen Saal des Montparnasse-Kellertheaters stellt sich Maxime d'Aboville mit leeren Händen vor die Zuschauer und beginnt, den Sturm auf die Bastille zu rezitieren. Der Anfang seines Texts stammt von Alexandre Dumas, die Fortsetzung von Jules Michelet. Die beiden Autoren kamen erst um 1800 zur Welt, kannten also die Revolution nur vom Hörensagen. In ihrer Phantasie aber bekam sie mythische Dimensionen.
Alle Ereignisse, sobald sie einmal historisch geworden, das heisst: in eine entsprechende Entfernung gerückt sind, werden von uns bis zu einem gewissen Grade als künstlerische Erscheinungen gewertet.
(Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit.)
Im kleinen, intimen Saal des Montparnasse-Kellertheaters ertönen nun die Sätze der kanonischen, aber nachrevolutionären Schilderungen mit dem ihrer Epoche entsprechenden Tremolo. Das gleiche Pathos hörte man bis 1970 bei den Erweckungspredigern, den Mimen der Comédie-Française und Charles de Gaulle. "La grandeur" verlangte einen opernhaften Stil.
Dazu kommt aber noch eine Besonderheit der Französischen Revolution: sie besteht ganz einfach darin, dass diese Revolution französisch war. Der Franzose besitzt nämlich das paradoxe und mysteriöse Talent, aus allem: Gott, Liebe, Freiheit, Ruhm, Alltag ein Kolportagedrama, einen Saisonroman zu machen; er weiss allem ein gewisses ästhetisches Arrangement und eine gute wirkungsvolle Drapierung zu geben.
(Egon Friedell)
In "guter wirkungsvoller Drapierung" ziehen nun die Erzählungen der nachrevolutionären Autoren vor dem geistigen Auge des Publikums auf. Doch bald beginnt Maxime d'Aboville auch, Reden zu zitieren, die zur Zeit der Ereignisse gehalten worden sind. Subtil von seinem Regisseur Aurélien Cros geführt, verwandelt sich der Rezitator dabei in die historischen Figuren Danton, Robespierre, Desmoulins, Marat und viele andere mehr. Sie haben individuelle Gesichtszüge, eigene Stimmlagen, persönliche Gebärden. Der eine schlägt sich an die Stirn, der andere bellt ins Publikum, der dritte stellt sich auf die Zehen, der vierte rollt mit den Augen, der fünfte schüttelt die Faust, der sechste tritt mit den Absätzen auf. Durch die schauspielerische Vergegenwärtigung wird der O-Ton der Geschichte vernehmbar ... beklemmend, aufwühlend, schaurig.
Dazu kommt noch die wunderbare lateinische Formvollendung, in der sich alles abspielte. Die öffentlichen Äusserungen dieser wilden Rotte von Mördern und Irrsinnigen, ihre Reden, Pamphlete, Manifeste waren immer noch Kunstwerke, sie könnten ohne Änderung, höchstens mit ein paar Strichen, in jedes Theaterstück hinübergenommen werden.
(Egon Friedell)
Was der Wiener Kulturphilosoph postulierte, wird nun "ohne Änderung, höchstens mit ein paar Strichen", ins Théâtre de Poche-Montparnasse "hinübergenommen" und zeigt: In Frankreich ist die Faszination der Revolution nicht erloschen. Gerade glüht sie wieder auf. Nach dem dritten Rücktritt eines Ministerpräsidenten innert zehn Monaten wird quer durch das Land der Kopf von Emmanuel Macron verlangt. Und die "Süddeutsche Zeitung" konstatiert am Abend des 6. Oktober 2025: "Frankreich versinkt in einer beispiellosen politischen Krise."
Proklamation.
Skepsis.
