Manon Lescaut. Giacomo Puccini.
Oper.
Alvetina Ioffe, Anna Bergmann. Bühnen Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 21. September 2025.
> Als das 19. Jahrhundert überreif geworden war und zu gären begann, stieg das Begehren nach wuchtigen, umwerfenden Stoffen. Vorgetragen wurden sie von Sängern mit goldener Kehle, welche in der Lage waren, den Stimmfetischisten schier endlose Wonne durch verströmenden Liebesrausch und Todesschmerz zu bereiten. Für sie komponierte der 35-jährige Giacomo Puccini, beraten durch einen Stab gewiefter, aber auch kalt rechnender Theaterpraktiker, seine monumentale "Manon Lescaut". Mit ihr zwang er das Opernpublikum seiner Zeit in die Knie. Heute aber, wo "less is more" angesagt ist, wirkt das "Zu viel", "Zu lang", "Zu statisch" als Herausforderung. Bestanden haben sie die Bühnen Bern nur mit dem starken Sängerpaar Manon/Desgrieux. Beim ganzen Rest aber waren sie schwach. <
Für ihre Inszenierung entscheidet sich Anna Bergmann, die Handlung aus der Perspektive von Manon – aus der Frauenperspektive mithin – zu schildern, und zwar als Rückblick. Vor dem Auge der Sterbenden zieht der Film des Lebens an der Schwelle zum Tod noch einmal auf.
Was da emportaucht, wirkt traumartig, grotesk, irreal, mit wirr ineinandergeschnittenen Bildern. In ihnen zeigt sich nicht die Wirklichkeit, sondern Manons Empfindungsweise. Für sie erscheinen die nostalgischen Momente in blassblauem Licht. Die zärtlichen in rosafarbenem. Und die affektiven im Schwarz-weiss der Hollywood-Filme. An den Höhepunkten verkörpert Manon die Diva und Desgrieux den Primo uomo, wie es Marilyn Monroe und Gary Cooper vorgeformt haben.
Indem die Inszenierung Klischee auf Klischee türmt, denunziert sie nicht nur den klischierten, um nicht zu sagen: kitschigen Ablauf der Oper, sondern auch den Druck von Zeit und Umständen, welche die 18-jährige junge Frau – von der Familie fürs Kloster bestimmt – zurechtgeschmirgelt und um die Selbstwerdung gebracht haben.
Ihre auf infantiles Format reduzierte Seele kennt nur das Glück des Gehaltenseins von starken Mannesarmen, die sie vor der bösen Welt beschützen, und die Flucht aus unglücklichen, eingeschränkten Verhältnissen ins Jenseits der Verschmelzung mit einem liebevollen, mächtigen, vergötterten Du. Mit diesen Zügen entspricht Manon dem Klischee der idealen Frau, wie sie sich die Männer des 19. Jahrhunderts erträumten.
Im ersten Akt erfährt sie die gewaltgeprägte Umwelt als albtraumhafte Zwangsgesellschaft. Gleichgeschaltet marschieren die Frauen in roter, streng beengender Nonnentracht auf, und die Männer uniformiert in schwarzem, ledernem Militärtenue. Im zweiten Akt behandelt der Grosssteuereinnehmer Géronte de Ravoir in seinem Palast Manon als Sexpuppe.
Sein fortgeschrittenes Alter, seine fetten Arschbacken, sein primitives Rein-Raus zwischen ihren gespreizten Beinen wecken in Manon (und im Publikum) nur Abscheu. Nirgends echte Zuneigung, nirgends Individualität, nur Fratzen, soweit man blickt ... ausser beim Studenten Desgrieux, der mit dem Wort "Liebe" Befreiung aus dem goldenen Käfig verheisst.
Der vierte Akt zeigt Manon und Desgrieux "in Amerika. Eine endlose Steppe am Rande von New Orleans. Immenser Horizont. (Orizzonte vastissimo.) Der Abend bricht an." Nur zwei Personen sind auf der Bühne. Im leeren Raum findet ihr Sehnen und Bangen ein Ende.
Die Aufführung wird hier ganz schlicht. Sie verzichtet auf alle Bilder. In der nachtschwarzen Verlorenheit verhaucht die arme, ermattete Seele: "Das Vergessen wird meine Fehler begraben, doch meine Liebe ... stirbt nicht ..." Mit diesem Schwur entspricht Manon bis zum Schluss dem Klischee der idealen Frau, wie sie sich die Männer des 19. Jahrhunderts erträumten.
Indem Anna Bergmann die Handlung aus der Frauenperspektive erzählt, durchziehen Karikatur und Kritik die ersten drei Akte. Sie verleihen der Bildlichkeit etwas befremdend Gewaltsames. Fühllos und roh – wie die Verhältnisse eben sind, die dem Geschehen zugrundliegen – stülpt sich das Bühnengeschehen über die Musik und durchtrennt den kompositorischen Fluss.
Doch nun macht das Konzept erst die halbe Miete. Wenn der legendäre Direktor der Pariser Oper Hugues Gall von derlei Arbeiten hörte, fragte er immer gleich: "Funktioniert's?" Und wenn die Leute nicht Lotte de Beer, Ruth Berghaus, Johannes Schaaf, Robert Carsen, Willy Decker, Dieter Kaegi oder Alexander von Pfeil hiessen, musste man in der Regel mit Nein antworten. So auch diesmal.
Wohl verdeckt die Fülle der frei flottierenden kritischen Elemente die überdehnte Leere der Vorlage, aber die Aufführung ist damit noch nicht tragfähig. Es fehlt ihr – im Gegensatz zu den Arbeiten von Lotte de Beer, Ruth Berghaus, Johannes Schaaf, Robert Carsen, Willy Decker, Dieter Kaegi oder Alexander von Pfeil – an Gewicht. Begründet ist die Substanzarmut in den meisten Fällen durch einen Mangel an Sensibilität für das szenische Detail und durch Einfallslosigkeit bei der Gestaltung der Zeit. So auch diesmal.
Analog verhalten sich die Dinge bei der Tonspur. Alevtina Ioffe disponiert am Dirigentenpult zwar grossflächig, vernachlässigt aber die Nuance. Das ergibt eine gleichmässige, aber leider auch dynamisch gleichmässig übersteuerte Interpretation, bei der sich die liebevoll herbeigeführten Glanzpunkte in der Unterzahl befinden.
Demselben Vorwurf unterliegt der Krafttenor Andeka Gorrotxategi. Sein Desgrieux bleibt ein rechtes Stück hinter der Nuancierungsfähigkeit der Sopranistin Kiandra Howarth zurück. Sie kommt der Gestalt der Manon etwa so nahe, wie es das strenge Regiekonzept gestattet.
Einsamkeit.
Sehnsucht.
Gewalt.
