Le village de l'Allemand. Boualem Sansal.
Schauspiel.
Luca Franceschi. Compagnie les Asphodèles du Colibri im Théâtre des Gémeaux Parisiens.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 11. Oktober 2025.
> Situationen, Gebärden und Figuren sind auf den Typ hin stilisiert. Man merkt es Luca Franceschis Inszenierung an, dass er von der Commedia dell'arte herkommt. Ausgebildet von Marcel Marceau, praktiziert er seit vier Jahrzehnten die alte italienische Theaterform, zuerst als Schauspieler, dann als Regisseur, unter anderem für die Opéra Comique und das Théâtre de l'Odéon Paris. Gerne auch an der Grenze zur Kolportage. Doch im Théâtre des Gémeaux Parisiens spielt seine sechsköpfige Truppe lediglich vor einer Handvoll weisshäuptiger Bildungsbürger. "Die Pariser haben Angst vor Attentaten", erklärt der Wirt der "Associés". Der Titel ist nämlich haram. Algerien hat "Le village de l'Allemand" verboten und den alten, kranken Schriftsteller ins Gefängnis geworfen. <
Mit sicherem Gespür für die theatralische Wirkung hat Luca Franceschi "Le village de l'Allemand" von Boualem Sansal zu einer Abfolge von Kurzszenen verarbeitet. Eine Polizeisirene markiert den Anfang. Eilig wird ein Absperrband über die Szene gezogen. Ein Radioreporter berichtet live von einem spektakulären Selbstmord und streckt das Mikrofon einem Passanten entgegen. Doch der will nichts sagen. "Die Leute hier sind geschockt", sagt der Journalist.
Der Geschockte ist der Bruder des Toten. Dass mit ihm etwas nicht stimme, war ihm in den Wochen vor dem Ereignis anzumerken. Er wurde bleich und mager; er veränderte den Charakter; er brach alle Kontakte ab. Aber er hinterliess ein Tagebuch. Der Bruder beginnt, es zu lesen, um zu verstehen, was zum Suizid führte.
Für den jungen, aus Algerien eingewanderten Franzosen kommt eine belastende Geschichte ans Licht. Sein Vater war Deutscher und trug den Namen Hans Schiller. Als SS-Offizier beteiligte er sich an der Ermordung der Juden in Auschwitz. Am Ende des Kriegs setzt er sich nach Algerien ab und konvertierte zum Islam. In einem abgelegenen Kaff heiratete er eine Einheimische, zeugte zwei Söhne, starb als angesehener Dorfältester und erhielt ein Ehrengrab. Dieser Teil des Romans soll sich um 1980 wirklich zugetragen haben.
Aus doppelter Perspektive wird nun die Vergangenheit aufgerollt. Roman und Theaterstück deuten die beiden Recherchen im Untertitel an: "Das Tagebuch der Brüder Schiller". Der ältere Sohn hält schreibend seine Forschung nach der Entwicklung des Vaters zum Nazi und Moslem fest; und der jüngere Sohn fängt seinerseits an, die Entwicklung des Bruders nachzuvollziehen.
Die Forschungen führen zur Erkenntnis, dass sich Nationalsozialismus und Islamismus aus den gleichen Wurzeln nähren: Überlegenheitswahn, Säuberungsdrang, traditionelles Familienbild, Hass gegen Juden und Homosexuelle, kritikloser Nachvollzug des Führerwillens. Das Übel kann sich ausbreiten, weil es die Menge vorzieht, vor dem Fanatismus den Kopf einzuziehen, anstatt dagegen aufzustehen.
"Le village de l'Allemand" erschien 2008 bei Gallimard. Der algerische Staat verbot das Buch unverzüglich wegen Gleichsetzung des Islamismus mit dem Nationalsozialismus. 2015 verlieh die Académie française Boualem Sansal den Grand prix du roman. Zehn Jahre später, am 1. Juli 2025, bestätigte schliesslich der algerische Kassationshof das Urteil von fünf Jahren Haft für den Achtzigjährigen.
Die Compagnie les Asphodèles du Colibri hat "Le village de l'Allemand" 2023 als Theaterstück zur Uraufführung gebracht. Die Lyoner Truppe erklärt ihren Namen folgendermassen:
Die Asphodèle [der Affodill, ein Liliengewächs] ist jene unscheinbare Pflanze, die in Gruppen aus trockenen Felsen, kargem Boden oder wilden Hängen spriesst. Sie ist eine plötzliche und unerwartete Schönheit am Strassenrand, wo nur Reisende haltmachen. Was wäre, wenn in einer oft trockenen, utilitaristischen, schwierigen oder mittelmässigen Welt jedes Schauspiel als Herausforderung verstanden würde, eine flüchtige Blüte von Schönheit und Originalität in den Farben eines anderen Lebens denen anzubieten, die noch bereit sind, anzuhalten und sich überraschen zu lassen?
Seit 2023 ist die Compagnie les Asphodèles du Colibri mit dem "Tagebuch der Brüder Schiller" auf Tournee. Anfänglich spielte sie vor vollen Häusern. Oft standen die Besucher zum Applaudieren auf. Doch der Gaza-Krieg hat viel verändert. "Die Leute haben Angst", erklärt der Wirt der "Associés". Nun wagen sich lediglich noch ein paar weisshaarige Intellektuelle in den Theatersaal der Gémeaux Parisiens. Der Rest zieht es vor, mit den Schultern zu zucken und wegzublicken.
Entwicklung des Vaters.
