Les Justes. Albert Camus.
Schauspiel.
Maxime d'Aboville. Théâtre de Poche-Montparnasse, Paris.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 11. Oktober 2025.
> Zuerst das Erschrecken: "So kann man heute nicht mehr schreiben!" Dann das Kopfschütteln: "So kann man heute nicht mehr inszenieren!" Darauf das Zugeständnis: "Aber die Besetzung ist gut!" Anschliessend die Verwunderung: "Die Handlung hat ja dramatische Qualität!" Die Einsicht: "Camus bekam nicht umsonst den Nobelpreis." Das Staunen: "Die Aufführung wird dem Stück in vollem Umfang gerecht!" Und am Ende die Frage: "Wo kommt das heute noch vor?" <
Wie beim "Vogelhändler" von Carl Zeller ("Ich bin die Christel von der Post") und der "Zauberflöte" von Wolfgang Amadeus Mozart ("Der Vogelfänger bin ich ja") wird auch bei den "Gerechten" von Albert Camus beim ersten Auftritt die Person auf schlichte Weise vorgestellt:
– Er ist's! Hier kommt Stepan.
– Welch ein Glück, Stepan!
– Guten Tag, Dora.
– Schon drei Jahre.
– Ja, drei Jahre. Am Tag, als sie mich verhafteten, wollte ich zu euch stossen.
– Wir haben dich erwartet.
– Wir haben die Wohnung wechseln müssen, einmal mehr.
– Ich weiss.
Die Regie macht nichts. Maxime d'Aboville lässt die Leute einfach stehen und reden. In deutschen Aufführungen gäbe es irgendwo ein Schlagzeug oder ein Klavier. Jemand würde sich dransetzen und anfangen zu spielen. Vielleicht wäre der Boden unter Wasser, und die Füsse würden darin herumplanschen. Bestimmt käme Video dazu. Und ein Ständermikrophon. Einzelne Passagen würden wiederholt, chorisch gesprochen oder gesungen. Die Hauptfiguren würden verzwei-, verdrei-, vervierfacht und dürften auch von Frauen gespielt werden. So viel Gendergerechtigkeit muss sein. Und immer würde etwas laufen. Doch in Paris macht die Inszenierung nichts. Reines Worttheater. Pah! Das ist doch Hörspiel, nicht Schauspiel! Sowas macht man heute nicht mehr!
Dann kommt der Gipfel: Die Figuren sind glaubwürdig! Wir können uns in sie hineinversetzen und spüren, was mit ihnen los ist. Im deutschen Schauspiel ist das seit Brecht verpönt: Man soll denken müssen, nicht fühlen dürfen! Die Menschen sollen durch "Verfremdung" von uns weggerückt werden, damit wir ihnen nicht erliegen. Also unnatürliche Spielweise, Brechung der Faszination, unmotiviertes Geschrei. Sonst landen wir beim Erzähltheater oder, noch schlimmer, beim Schauspielertheater. Das geht heute nicht mehr!
Gleichwohl rückt uns Maxime d'Aboville "Die Gerechten" in die Ferne: Er lässt das Stück so aufführen, wie es bei der Uraufführung 1949 gegeben worden sein muss. Und damit produziert seine Inszenierung einen Schock. Denn mit dieser Spielweise sind wir in der deutschen Sprachwelt nicht mehr vertraut. Sie schafft "Verfremdung" durch einen Looping. Indem die Vorlage so gegeben wird, wie sie zur Zeit ihrer Entstehung gemeint war und allgemein verstanden wurde, erleben wir als erstes die historische Kluft, die uns vom Theater der Herren Camus, Sartre, Giraudoux, Anouilh und Achard trennt: So spricht man heute nicht mehr! So verhält man sich nicht mehr! Und so werden wir paradoxerweise im Théâtre de Poche-Montparnasse distanziert, abwehrend und kritisch ... weil uns der "werktreue", aber in Wirklichkeit fremdgewordene Stil irritiert.
Die Aufführung wird mit fortschreitender Handlung immer spannender. Das Spiel ist fein, situationsadäquat, vielfältig, immer wieder überraschend – und zwar da, wo es echt ist und die Sache trifft. Da ereignen sich Wahrheitsmomente, die das gewöhnliche Theater übersteigen. Alfred Kerr sprach in diesem Zusammenhang von "Ewigkeitszug". Heimito von Doderer von "Jenseits im Diesseits".
Interessanterweise hat sich heute, zeitgleich zur Entwicklung des Regietheaters, die Wiedergabe des Textes, wie er gemeint war, in der E-Musik durchgesetzt. Die Spezialisten von Anima Eterna, Freiburger Barockorchester, Giardino Armonico, Orchestra of the Age of Enlightenment streichen auf Darm- anstatt Metallsaiten, schlagen auf Fell- anstatt Plastikpauken, spielen auf Erard- anstatt Steinwayflügeln, und die Dirigenten erforschen in den Archiven den Urtext. Sie kennen die Spiel- und Rezeptionsweise der Entstehungszeit und sind stolz auf ihre "historisch informierte Aufführungspraxis".
Zusammen mit dem Organisten Luigi Ferdinando Tagliavini erklären Guy Bovet und Emmanuel Le Divellec, dass fürs Musizieren exakte historische Kenntnisse wichtig seien. Aber beim Spielen müsse man sie vergessen. Denn Gelehrsamkeit allein könne kein Leben schaffen. Demgemäss bewegen sich die Tonkünstler zwischen den Polen Gefühl und Verstand.
So gut nach den Gesetzen der Grossultan ausser dem Regieren noch ein Handwerk (nach Rousseau auch der Gelehrte eines) treiben soll, so sollte ein junger Schreib- und Dichtkünstler neben dem Dichten noch Wissenschaften treiben, z. B. Sternkunde, Pflanzenkunde, Erdkunde usw.
Das führte Jean Paul in Paragraph 1 der "Kleinen Nachschule zur ästhetischen Vorschule" aus. Zur Bekräftigung nannte er Goethe, "der sich wirklich auf so viele Wissenschaften gelegt hat, als habe er nie einen Vers gemacht".
So legt uns das Beispiel der "Gerechten" in Paris die Folgerung nahe, dass das deutschsprachige Theater weiterkäme, wenn es seine Selbstbezogenheit und Selbstgerechtigkeit überwinden könnte und ebenfalls anfinge, "historisch informiert" vorzugehen und dem Eigentümlichen der Vorlagen nachzuspüren. Dann würde es mit jeder Aufführung unsere Sensibilität und Auffassungsweise weiterbringen.
Die Compagnie les Asphodèles du Colibri aus Lyon erklärt :
Die Asphodèle [der Affodill, ein Liliengewächs] ist jene unscheinbare Pflanze, die in Gruppen aus trockenen Felsen, kargem Boden oder wilden Hängen spriesst. Sie ist eine plötzliche und unerwartete Schönheit am Strassenrand, wo nur Reisende haltmachen. Was wäre, wenn in einer oft trockenen, utilitaristischen, schwierigen oder mittelmässigen Welt jedes Schauspiel als Herausforderung verstanden würde, eine flüchtige Blüte von Schönheit und Originalität in den Farben eines anderen Lebens denen anzubieten, die noch bereit sind, anzuhalten und sich überraschen zu lassen?
Wenn man Neues bringen will, zerschlägt man nicht die alten, sondern schreibt neue Stücke. Das machen in Frankreich die Theater jeden Abend vor. Hier sind die Uraufführungen so zahlreich, dass man sie nicht einmal mehr eigens hervorhebt. Sie sind "courant normal" wie zur Zeit von Molière, Shakespeare, Goethe, Schiller, Beckett, Ionesco und Pinter ...
"Hier kommt Stepan."
Der Tatmensch.
