Unter der wandernden Sonnenscheibe ein farbiger Überwurf namens Palla. © Joel Schweizer.

 

 

Phädra. Jean Racine.

Schauspiel nach der Übersetzung von Friedrich Schiller.

Olivier Keller, Karin Bucher, Flavia Bienz. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 6. September 2025.

 

> Eindrucksvoll meisselt die Schauspielsparte von Theater Orchester Biel Solothurn Jean Racines legendäre Tragödie durch wohlbemessene Schläge heraus. Und Friedrich Schillers aussagestarkes Deutsch evoziert den unglücklichen Verlauf des Dramas mit altrömischer Lakonie. Das ergibt eine Aufführung von antiker und gleichzeitig moderner Klassizität. Nichts lenkt vom Kern ab, und der Kern ist stark. Der Block indes, den die Regie auf den Brettern zeigt, besteht nicht durchgehend aus Granit. Ein paar Stellen sind aus Sandstein – also eher weich. Aber im grossen Ganzen stimmt die Linie und verlangt Respekt. <

 

Regisseur Olivier Keller verwendet für seine Fassung eine Figur, die weder im Original von Racine noch in der Übersetzung von Schiller vorkommt. Sie heisst "Katalys". Der Name ist offensichtlich abgeleitet von "Katalysator". Laut Duden bezeichnet das Wort einen "Stoff, der durch seine Anwesenheit chemische Reaktionen herbeiführt oder in ihrem Verlauf beeinflusst, selbst aber unverändert bleibt". Rollen, welche diese Funktion erfüllen, nennt das Theater "Charge", früher auch "utilité"; auf Englisch "fifth business".

 

Sie wissen nicht, was das ist? Nun, in einer Operntruppe, wie wir sie in Europa haben, muss es eine Primadonna geben – immer eine Sopranistin, immer die Heldin, oft eine Närrin; und einen Tenor, der immer ihren Liebhaber spielt; und dann muss es eine Altistin geben, die eine Rivalin der Sopranistin ist, oder eine Zauberin oder sowas; und einen Bass, der den Bösewicht oder den Rivalen oder was auch immer gibt, der den Tenor bedroht.

 

So weit, so gut. Doch ohne einen weiteren Mann funktioniert die Handlung nicht, und dieser ist in der Regel ein Bariton und wird in der Branche "fifth business" genannt, weil er der Aussenseiter ist, die Person, die kein Gegenstück beim anderen Geschlecht hat. Und man braucht den fünften, weil er derjenige ist, der das Geheimnis der Geburt des Helden kennt oder der Heldin zu Hilfe kommt, wenn sie glaubt, alles sei verloren, oder der die Einsiedlerin in ihrer Zelle bewacht – oder er mag sogar den Tod einer Person bringen, wenn das die Handlung verlangt. Die Primadonna und der Tenor, die Altistin und der Bass bekommen die beste Musik und machen alle spektakulären Dinge, aber ohne fifth business lässt sich keine Handlung gestalten! Er ist nicht spektakulär, aber er ist eine gute Arbeit, das kann ich Ihnen sagen, und diejenigen, die sie ausüben, haben manchmal eine Karriere, die länger dauert als die der goldenen Stimmen.

(Robertson Davies: The Deptford Trilogy.)

 

In Biel/Solothurn nun versieht Léonard Bertholet unter dem Namen Katalys das fifth business. Zu diesem Zweck stecken ihn Bühnenbildnerin Karin Bucher und Flavia Bienz in ein Laborkostüm aus metallfarbenem Kunststoff, während die vier Hauptfiguren – zwei Alte und zwei Junge, zwei Frauen und zwei Männer – mit Sandalen, Toga, Himation (Überwurfmantel) und Palla (farbigem Umwurf) in einer der Antike nachempfundenen Kleidung auftreten.

 

Ausgelöst wird die Tragödie durch das Verhängnis der Liebe. Amor, der blinde Gott, treibt die reife Phädra dazu an, Gesetz und moralische Ordnung zu überschreiten und sich in den jungen, blühenden Hippolyt, Sohn aus der ersten Ehe ihres Gatten, zu verlieben. Der Sohn seinerseits überschreitet das Gebot des Vaters und verliebt sich in die Staatsfeindin Aricia, eine athenische Fürstentochter, die er bewachen soll.

 

Dieses tragische Geflecht handelt Jean Racine nach dem Gebot der drei Einheiten ab: Einheit des Orts, Einheit der Zeit und Einheit der Handlung. Niemand ausser dem fifth business tritt zu den vier Hauptfiguren hinzu. Und der antiken Dramenordnung zufolge muss sich die Katastrophe an einem Tag abspielen. Der Lauf der Sonne schreibt dieses Zeitmass vor. Demzufolge wandert jetzt eine runde Scheibe am Bühnenhorizont von links nach rechts. Und da die Konzentration auf zwei Damen (einer alten und einer jungen) und zwei Königen (einem alten und einem jungen) dem Endspiel einer Schachpartie entspricht, sind die einen Figuren hell, die andern dunkel gewandet. Analog zur Konstellation auf dem Schachbrett stehen sie auf klar begrenzten, rechteckigen Podesten. Sie schaffen mit einer ununterbrochenen, wenngleich oft laut- und reglosen Anwesenheit ein Kraftfeld, das den Zuschauer nicht loslässt.

 

Ihre Spielweise zeichnet sich aus durch eine klare Fassung von Charakter, Ausdruck, Stellung und Gebärde. All ihre Momente sind geprägt von der Einheitlichkeit des Kunstwillens. Einzig Léonard Bertholet bleibt hinter der Interpretation von Anna Blumer als Phädra, Gabriel Noah Maurer als Hippolyt, Judith Cuénod als Aricia und Günter Baumann als Theseus zurück. Aus der Westschweiz stammend, ist er durch schweren, oft unverständlichen französischen Akzent behindert. Sein Botenbericht vom Tod Hippolyts, an der Comédie-Française eine zehnminütige Bravourarie, wirkt deshalb bei Theater Orchester Biel Solothurn als problematische Antiklimax überdehnt und fad.

 

Diese schwache Stelle sollte Olivier Keller noch wegmeisseln, wenn er schon die Kühnheit hatte, Phädras Ende auf so wenige Zeilen zu kürzen, dass das überrumpelte Premierenpublikum erst nach drei, vier Sekunden merkte, dass ihm jetzt die Rolle zukam, die Hände zu rühren, was es dann aber auch bereitwillig tat. 

Die Liebenden ... 

... getrennt ... 

... aber verknüpft.