Fröhliche Farben. © Joel Schweizer.

 

 

Striptease/Auf hoher See. Slawomir Mrozek.

Einakter.

Sophie Bischoff/Basil Zecchinel, Lea Burkhalter. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 20. April 2024.

 

> Zwei Stücke. Das eine spielt auf See, das andere an Land. "Striptease" inszeniert eine junge Frau, "Auf hoher See" ein junger Mann. Die beiden Einakter laufen am selben Abend. Hinter beiden steht das Label: "Bühne frei für den Regie­nachwuchs." Gemeinsam haben sie den Verfasser: den polnischen Schriftsteller Slawomir Mrozek. Er rechnet mit dem Stalinismus ab, unter dem er aufgewachsen ist und bei dem er mitgemacht hat. 1953 – also im Alter von 23 Jahren – plädierte er mit seiner Unterschrift als Journalist für die Verfolgung der polnischen Kirchenführer. Dazu betei­ligte er sich an der Diffamierung dreier Krakauer Priester, die zu Unrecht des Verrats bezichtigt und daraufhin exekutiert wurden. Diese Schrecknisse stehen hinter den beiden Einaktern, die acht Jahre danach entstanden und alles andere als lustig sind. An der Solothurner Premiere aber wurde dauernd gelacht. Diese Zuschauerreaktion zeigt an, dass der Regienachwuchs die Schraube deutlich stärker hätte anziehen müssen, um den Stücken jene Schärfe zu geben, die schmerzt. <

 

In der "Halunkenpostille" von Fritz Grasshoff findet sich

 

Die Ballade vom aufgegessenen Bein.

 

Der Hunger machte sie zum Tier.

Sie kamen überein:

wir essen beide erst von dir

und dann von mir ein Bein.

 

Zwei Schiffbrüchige sind auf einer einsamen Insel gestrandet, und hier bedroht sie Hungertod.

 

In die gleiche Situation führt auch Slawomir Mrozeks Einakter "Auf hoher See". Die Bühne zeigt drei Männer auf einem Floss. Ringsum nur Wasser. Die Nahrungsmittel sind erschöpft. Jetzt soll sich einer opfern, damit die beiden andern weiterleben können.

 

Wie im Brennglas vergrössert und verdeutlicht die experimen­telle Spielanlage das verhängnisvolle "double speak", wo man das eine sagt und das andere meint. Gespaltene, unaufrichtige Rede ist, wie George Orwell in seinem Roman "1984" gezeigt hat, die Sprachform der Diktatur. Um die Bevölkerung manipulieren zu können, muss sie ihre unmenschlichen Zwecke mit schönen, aber verlogenen Formulierungen verdecken.

 

Wer hinter dem Eisernen Vorhang aufwuchs, entwickelte eine feine Feder und ein feines Gehör. Die Dichter, Denker, Nonkonformisten, Unangepassten und Oppositionellen mussten ihre Botschaft an der Zensur vorbeischmuggeln. Deshalb war "double speak" nicht nur die Sprache des Regimes, sondern auch die Sprache der Unterdrückten. Allenthalben formulierten die Menschen ihre wahren Gedanken hinter Lüge und Heuchelei.

 

Diese Doppelbödigkeit nun hat der Regienachwuchs an seinem Mrozek-Abend in Biel/Solothurn nicht genügend realisiert – das heisst weder verstanden noch inszeniert. Darum kommt der Ernst, aus dem die beiden Einakter "Auf hoher See" und "Striptease" hervorwuchsen, nicht ausreichend zur Darstellung. Für das zeitgenössische Publikum war der bleierne Ernst Alltag. Es trug die niederdrückende, aber verschwiegene Schwermut unablässig in seiner Seele herum.

 

Anders verhält es sich am Jurasüdfuss. Da leben die Leute seit hundert Jahren auf einer Insel der Seligen. Aus diesem Grund kennen sie das Lebensgefühl in einer strangulierenden Diktatur nicht. Damit es für sie nachvollziehbar wird, muss es das Theater durch Evokation des Bösen aufsteigen lassen.

 

Gerade im beklemmenden Stück "Striptease", wo die anonyme Macht die Schraube systematisch anzieht, werden die Beherrschten zu peinlichen Manifestationen von Gleichmut, Aufschneiderei und Speichel­leckerei veranlasst. 2,5 Millionen verschwanden so im Gulag. Fehlt die Dimension von Grauen, Angst und Entwürdigung, ergibt sich auf der Bühne kein "double speak", und das Publikum missversteht die Komik als Aufforderung zu wohlgelauntem Gelächter.

 

Dabei macht der Regienachwuchs nichts falsch; er macht nur nicht genug. Sophie Bischoff und Basil Zecchinel lassen ihre Einakter moderat ab Blatt spielen. Gefragt aber wäre Mut zur Zuspitzung, zur Schärfe und zur Provokation, bis es wehtut. Jetzt macht das saubere Spiel von Günter Baumann, Geronimo Hartig und Gabriel Noah Maurer zwar in jedem Moment spürbar, wo die Figuren stehen, doch führt die Situation nie zu Entsetzen. Zur Harmlosigkeit trägt auch die pittoreske Farbgebung von Bühnenbild und Kostümen durch Lea Burkhalter bei.

 

An einer Hochschule der Künste würden die beiden Inszenie­rungen den "Grade C (= gut)" erlangen: "Gute und solide Arbeit, jedoch mit einigen Mängeln."

Täuschender Schein. 

Bedrohliches Zureden. 

Nackte Entblössung. 

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