Verschachtelte Erzählweise. © Christophe Raynaud de Lage.

 
 

 

Ils nous ont oubliés. Thomas Bernhard.

Schauspiel.

Séverine Chavrier, Louise Sari, Quentin Vigier. Théâtre national de La Colline, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 15. Februar 2024.

 

> Ihre Bühnenversion von Thomas Bernhards Roman "Kalkwerk" gestaltet Séverine Chavrier als schwarzen, schwer lastenden Albtraum. Die eigentümliche Ausdrucksweise des Büchner-Preis-Trägers wird aber vom Französischen so natürlich und locker aufgenommen, dass man glauben möchte, die Handlung spiele im Hier und Jetzt. Nach vier Stunden erreicht die Aufführung ihren Gipfel: Da wird die Flinte gezogen, und die Derniere mündet in eine Überraschung, die sich allen Beteiligten ins Gedächtnis einbrennen wird. <

 

Die Tragödie des Ehepaars Konrad ereignet sich weit weg von den Menschen in einem stillgelegten Kalkwerk oben im Wald. Das Publikum vernimmt vom Geschehen durch die Gespräche in der Dorfschenke. Ein Verrückter habe seine Frau umgebracht. Die Behinderte sei im Rollstuhl gewesen. Zur Sicherheit habe sie in der Einsamkeit immer ein Gewehr bei sich gehabt. Das habe der Mann gezogen und einen, zwei, vielleicht auch drei Schüsse abgegeben. Da niemand dabei war und das Ganze etwas zurückliegt, gehen die Vermutungen auseinander, und niemand kann etwas Bestimmtes sagen.

 

Schon in seinem dritten Werk verwendet Thomas Bernhard die verschachtelte Erzählweise, welche die Dinge vom Betrachter fernrückt. Sie sind bei diesem schwierigen Autor nicht nur, wie es der Natur eines Texts entspricht, durch Sprache vermittelt, sondern immer auch durch jemandes Sprache. Der sprechende Jemand hat eine Position; das bedeutet: einen eingeschränkten Blickwinkel, eine vorgefasste Haltung, eine eingefärbte Sicht ... weshalb bei Bernhard gar nie das Ding an sich in Erscheinung tritt.

 

Auf der Bühne ist das anders. Wenn Konrad seine Frau mit Experimenten quält, verfolgen im Saal Hunderte von Zeugen den Vorgang. Die Wirklichkeit erscheint folglich unvermittelt. Kein Sprachfilter schiebt sich zwischen die Handlung und die Aufnehmenden. Alle haben das gleiche factum brutum vor Augen. Aus diesem Grund stellt die Inszenierung nun das technische Vehikel der Bild- und Tonübertragung zwischen die Wirklichkeitsdarstellung des Theaters und die Sinne des Publikums. So kann Regisseurin Séverine Chavrier die Distanz, die Thomas Bernhards Werke charakterisiert, in die szenische Darstellung integrieren.

 

Der Rhythmus von Bernhards Prosa, der beim stillen Lesen das Ohr verführt, wird bei der französischen Bühnenversion des "Kalkwerks" von einer atemberaubenden Schlagzeugpartitur geliefert. Durch harten, oft aggressiven Duktus ruft Florian Satche die qualvolle Situation des Ehepaars Konrad hervor. Gleichzeitig bekommt die Handlung durch die akustisch durchgehende Belebung der Stille etwas Opernhaftes. Die Künstlichkeit wiederum erlaubt es den Darstellern, ihre Seelenlage mit feinstem Naturalismus auszudrücken. Auf diese Weise erreicht die Sprechtheater-Produkion die Qualität von Alban Bergs "Wozzeck". Die Sätze sind eingebettet in ein Kunstganzes, das die Natur mitumfasst: "Wie der Mond rot aufgeht! Wie ein blutig' Eisen."

 

Vier sorgfältig abgestimmte Stile erreichen das Ohr des Zuschauers: die Sprache der Dorfbewohner, die aus der Ferne die Ereignisse im Kalkwerk bequatschen (Aurélia Arto); die Sprache des Wissenschafters, der unter der Last des zu schreibenden Werks in den Wahnsinn abdriftet (Laurent Papot); die Sprache der behinderten Frau, bei der sich, wie beim Mann, die Täter-Opfer-Umkehr vollzieht (Marijke Pinoy); und die Sprache der Pflegerin, in der die jugendliche Unbekümmertheit Ausdruck findet (Adèle Bobo-Joulin).

 

Langsam gleitet das intensive Geschehen seinem Ende zu. Der entnervte Mann packt das Gewehr. "Ja, bring mich um!", ruft die Frau. "Das ist das grösste Geschenk, das du mir machen kannst." Mit stürmischen Wirbeln peitscht das Schlagzeug die Erregung hoch. Jetzt geht das Licht aus. Man hört verzweifelte Jammerlaute der Frau. Im Saal wird es hell.

 

Das Publikum blickt auf den geschlossenen Vorhang und weiss nicht, ob es klatschen soll. Da sagt eine Lautsprecherstimme: "Wir hatten soeben einen Bühnenunfall. Ist ein Arzt anwesend?" Zwei Besucher stehen auf und treten hinter den Vorhang. Die Lautsprecherstimme meldet sich ein zweites Mal: "Meine Damen und Herren, es tut uns leid. Die Vorstellung ist aus. Bitte gehen Sie nach Hause." Auf der Strasse fährt schon ein Rettungswagen mit Blaulicht heran und bremst beim Bühneneingang.

 

Auf diese Weise gestaltete sich am 10. Februar 2024 die Derniere von "Ils nous ont oubliés" im Pariser Théâtre national de La Colline.

 

Langsam gleitet ...

... das Geschehen ...

... seinem Ende zu. 

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