Durchbohrt von Unentschiedenheit. © Armin Smailovic.

 
 

 

Die Vaterlosen. Anton Tschechow.

Schauspiel.

Jutta Steckel, Florian Lösche, Maximilian Kraussmüller, Anna Bauer. Münchner Kammerspiele.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 8. Januar 2024.

 

 

> Im Alter zwischen 18 und 20 Jahren schrieb sich Anton Tschechow das erste Stück von der Seele. Alles war schon da, womit er sich später beschäftigen sollte. Das Szenenkonglomerat wuchs auf zweihundert Seiten an. Doch das Maly-Theater Moskau lehnte das Manuskript ab, und Tschechow vernichtete es. 16 Jahre nach seinem Tod tauchte eine frühe Fassung auf, allerdings ohne Titelblatt. Der Erstling wird meistens "Platonow" genannt wie die Hauptfigur. Im Tagebuch aber sprach Tschechow von "Den Vaterlosen". Unter diesem Titel realisieren es heute die Münchner Kammerspiele in einer sehr bemerkenswerten Aufführung. <

 

"Der beste jüdische Witz", rief Teddy Podgorski, die 85-jährige ORF-Legende, in Günter Kaindlstorfers Radiomikrofon; "hören Sie: Zwei alte Rabbiner gehen in Budapest über die alte Kettenbrücke. Sagt der eine zum andern: 'Jedes Mal, wenn ich diese Brücke betrete, erkenne ich darin das Leben.' Sagt der andere: 'So ein Unsinn! Was kann denn eine alte Kettenbrücke über das Leben sagen?' – 'Woassi? [Weiss ich's?]' "

 

"Woassi?" lautet auch die Antwort Anton Tschechows. Drei Wochen vor dem Tod schreibt er: "Du fragst mich: Was ist das Leben? Du könntest mich ebensogut fragen, was eine Mohrrübe sei. Eine Mohrrübe ist eine Mohrrübe. Mehr weiss man nicht davon."

 

So verhält es sich in der Tat. Um über die Bedeutung einer Kettenbrücke (oder einer Mohrrübe) für das Leben Auskunft geben zu können, sollten wir zuerst wissen, was das Leben ist. Doch wir müssen es durchwandern, ohne seine Definition und seinen Zweck zu kennen. Wir können uns nur mehr oder weniger geschickt, mehr oder weniger anständig in ihm bewegen, meinen der junge Tschechow und der alte Rabbiner. Der alte Rabbiner schweigt. Der junge Tschechow aber beginnt, die Menschen zu schildern.

 

Gleich wie die Mohrrüben kommune Gewächse sind, gehören auch Tschechows Figuren zur kommunen, keineswegs erlesenen Sorte. Man findet sie in jedem Beet zu Dutzenden: Verbrauchsware, bestimmt zum unkomplizierten Verzehr. Wurzelgemüse wird verdaut und vergessen. Es ist anspruchslos und verbreitet sich überall. Wir wissen, wie wir es zu nehmen haben. Denn wir sind von der gleichen Art.

 

Angesichts dieser Beschaffenheit der Dinge erstaunt es nicht, beim Betreten des Theatersaals bereits ein paar Menschen vor dem eisernen Vorhang anzutreffen. Sie haben auf Hockern Platz genommen und warten wie die Zuschauer darauf, dass die Handlung beginnt. Andere kommen dazu – im Saal und auf der Bühne, und die verschiedenen Leute beginnen, miteinander Kontakt aufzunehmen: "Es fehlen noch drei leere Bierflaschen. Schauen Sie doch bitte unter Ihren Stühlen, ob Sie eine finden." Wie bei jedem Empfang werden die Anwesenden vorgestellt und zusammengebracht: "Wer ist Single? Bitte aufstrecken! Wie heissen Sie?" "Gabriel." "Und Sie?" "Patrick." Vor dem Eisernen beginnt derweil einer, WhatsApp-Nachrichten vorzulesen. Tschechow: "Mir wird oft vorgeworfen, dass ich über Bagatellen schreibe, dass es bei mir keine grossen Helden, keine Revolutionäre gibt. Wo soll ich sie aber hernehmen? Ich wäre ja gern bereit! Das Leben ist bei uns provinziell..."

 

Unauffällig führt Regisseurin Jette Steckel ins Stück hinein. Sie lässt die Sprache des Publikums, die Sprache der Darsteller, die Sprache der sozialen Medien und die Sprache Tschechows ineinanderfliessen. Und wie beim Einschlafen merken die Zuschauer erst mit der Zeit, dass sie schon "drüben" angelangt sind – in der Welt der Figuren mit ihren kleinen Träumen, auswechselbar wie Mohrrüben.

 

In der Subtilität der Übergänge und der Vielschichtigkeit der Darstellung liegt die Meisterschaft der Produktion. Wenn der zweite Akt im Freien spielt und sich dafür die Szene öffnet, evoziert ein Wald von Metallstäben Schilf, Garten und Flussufer auf Florian Lösches Drehbühne. Kaum merkliche Veränderungen im Lichtdesign von Maximilian Kraussmüller bringen die einzelnen Darsteller vors Auge, und Anna Bauer antizipiert, grundiert und verfremdet in ihrer Komposition die Stimmungslage. Auf diese Weise baut sich im Lauf der Zeit ein Kunstganzes im umfassenden Sinn des Wortes auf.

 

Anton Tschechows personenreicher Erstling ist vorzüglich besetzt. Zu verfolgen, wie die Figuren ins Spiel geführt werden und sich verändern, bietet einen eigenen Theatergenuss. Die Aufführung erlahmt in keiner Minute, obwohl anspruchsvolle 2 Stunden und 50 Minuten bis zur Pause vergehen. Die Münchner Kammerspiele aber knüpfen mit den "Vaterlosen" nach lange anhaltendem, drastischem Besucherschwund wieder an ihre besten Zeiten an.

 

Aufwallungen ... 

... in einem Wald ... 

... von Metallstäben. 

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