Übermächtige Rhythmen. © Marcella Ruiz Cruz.

 
 

 

Phädra, in Flammen. Nino Haratischwili.

Schauspiel.

Tina Lanik, Stefan Hageneier, Electric Indigo. Burgtheater Wien.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 14. Dezember 2023.

 

> Haratischwili ist nicht Racine, und das woke Berlin nicht das Paris von Port-Royal. Auf der Bühne spricht man heute von "Titten" und "Schwänzen", nicht mehr von "gorge" (Kehle [gemeint ist aber "Brust"]) und "coeur" (Herz). So hat jede Zeit ihre Ausdrucksweise. Das Programmheft aber erklärt zu recht: "Haratischwilis unverwechselbare, sinnliche Sprache schält Phädras zeitloses Leiden, ganz neu empfunden, so gnadenlos wie liebevoll heraus." Im Burgtheater Wien findet die Vorlage einen stimmigen Ausdruck: Hinweis auf die Kraft und Unsterblichkeit des Mythos. <

 

Das einzig Enttäuschende ist die Uneinheitlichkeit des Ensembles. Jenseits aller Kritik stehen nur zwei Männer: Ernest Allan Hausmann als Theseus (König von Athen) und Julian von Hansemann als Demophon (der Erstgeborene). Ihre Rede ist glasklar und drückt stets die richtige Gefühlslage aus. Leider ist ihr Part nicht umfangreich. Doch wenn sie auf der Bühne stehen, erreicht die Darstellung das Seinsollende (um in der Sprache der alten Griechen zu reden).

 

Bei Phädra ist das nicht durchgehend der Fall. Sophie von Kessels körperliche Agilität erstreckt sich nicht in gleichem Mass auf die Sprechmuskulatur. In das Hoheitsvolle und Gemessene der königlichen Person mischt sich ein quäkender Beiklang. Aber eben – die Frau darf sich nicht ausleben. Sie muss sich in Zucht halten, wenigstens nach aussen hin. Damit ist ihre Kraft gebrochen. Das Eruptive fehlt, mit dem die grossen Tragödinnen ihr Publikum bezwangen. Phädra wird zwar im Stück eine Granate genannt, doch gleicht der Höhepunkt der Handlung eher einer Implosion.

 

Das Anti-Pathetische der Darstellungsweise mündet bei Persea (der Tochter des Magistraten aus Eleusis) von Dagna Litzen­berger Vinet in ein schwaches Glühen, das - namentlich akustisch - die Zuschauer kaum mehr erreicht. Das Drama kommt wohl durch das Selbstbewusstsein der jungen Frau in Fahrt, doch ist ihre Zurückgenommenheit kein glaubhafter Ansatz, um die Gefühle der Männer (und Phädras) zu wecken, die Königs­familie durcheinanderzubringen und den Hass des Hohepriesters zu entfachen. Die beiden hohen Frauen, Königin und Schwieger­tochter, welche die Grundspannung herstellen sollten, bleiben ihrem Part Substanz schuldig. Damit verläuft die Aufführung nur gedämpft, nicht überwältigend.

 

Das Stück umfasst zwei weitere Rollen: Den zarten jüngeren Sohn (von Etienne Halsdorf sympathisch, wenn auch nicht durchgehend textverständlich gegeben) und den zähen, intrigan­ten Gottesmann, Manipulator des Königreichs wie im alten Frankreich die Kardinäle Mazarin, Richelieu und Dubois, die Beichtväter der Monarchen (bei Philipp Hauss bestens aufge­hoben).

 

In der Zusammenstellung der Personen liegt die Stärke des Stücks. Die sechs Namen bezeichnen nicht einfach sechs Rollen, sondern sechs wohlunterschiedene dramatische Potenzen. Deren Interaktion führt zu einem beklemmenden Wechsel der Töne, Gefühlslagen und Intensitäten. Die Konstellation macht "Phädra, in Flammen" zum Meisterwerk. Alle Figuren lassen sich, technisch gesprochen, als dynamische Charaktere darstellen, gezeichnet und verwandelt vom Lauf der Handlung. Das bringt die Inszenierung von Tina Lanik ans Licht.

 

In der Ausstattung von Stefan Hageneier lenkt nichts von den Personen ab. Sie stehen auf einer schwarzen Podestfläche wie im nackten Halbrund des antiken Theaters, und ihre befremd­lichen Kostüme zeigen, dass sie von weither kommen. Der Hinter­­grund wird von einer riesigen Mondscheibe ausgefüllt. Im Lauf des Dramas wechselt sie Aussehen und Farbe, taucht die Welt in blaues, silbernes und rotes Licht. Der Verweis auf die übergeordneten planetaren und stellaren Rhythmen stellt die Handelnden sinnbildlich vor die Frage: "Wie stehst du vor dem Ewigen da?" Und unter diesem Aspekt sehen die Mächtigen nicht gut aus.

 

Immanuel Kant:

 

Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Ich sehe sie beide vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz.

 

Im Burgtheater verknüpft "Phädra, in Flammen" den bestirnten Himmel vor uns und das moralische Gesetz in uns mit der Kraft und Unsterblichkeit des Mythos, und die Tonspur von Electric Indigo lässt Sprache und Handlung einsickern bis in die Tiefen unserer archaischen Schichten. Ein mutiger, eigenständiger, lange nachwirkender Abend.

 

Die alternde Phädra. 

Die junge Frau.

Die junge Liebe. 

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